Der deutsche Philosoph Markus Gabriel nennt Physikalismus, Neurozentrismus und moralischen Nihilismus als die drei großen und gefährlichen Irrtümer unserer Zeit. Seiner Meinung nach müssen wir davon ausgehen, dass es mehr gibt als die physikalisch beschreibbare Wirklichkeit, dass unser Geist mehr ist als eine Emergenz unseres Gehirns und dass objektive moralische Gesetze existieren. Dieser überraschende Ansatz der modernen Philosophie eröffnet neue Perspektiven auf Religion, Ethik und Magie. Die bildende Kunst stand wohl seit Menschengedenken in ihren Diensten.
Für die Galerie beim Feurle in Feldkirch berufe ich mich auf die ältesten Objekte der Menschheitsgeschichte: kultische Artefakte aus dem Paläolithikum, der Steinzeit. Mit einer Mischung aus Recherche und künstlerischer Intuition rekonstruiere ich Funde, die bis zu 40.000 Jahre alt sind. Dabei verwende ich ursprüngliche Materialien, Formen und Techniken, die ich mit Neuem kombiniere: materielle Archäologie mit symbolischer, zeitgenössischer Aufladung.
Ich präsentiere die Artefakte in einem Schrein im Schaufenster neben dem Café Feurstein.
Die Objekte erwecken den Anschein, als dienten sie dazu, den Austausch mit „dem Anderen” zu erleichtern und zu ermöglichen sowie ins Ungleichgewicht geratene Beziehungen mit der immateriellen Welt auszugleichen. Sie sind stille Zeugen eines verlorenen Kults – oder eines kommenden? Replik oder funktionales Werkzeug?
Was bedeutet es, in einer Zeit zu leben, in der der Mensch die Biosphäre verändert – im Anthropozän? Woran glauben wir, wer trägt Verantwortung und was hoffen wir?
Der „Paläolithische Schrein im Anthropozän“ ist mehr als eine historische Referenz. Es geht um den Wunsch nach einer Unio Mystica, einer Verbindung mit allem Lebendigen. Die geformten Relikte sind nicht nur Erinnerungen an die Vergangenheit, sondern auch Angebote für die Gegenwart: kultische Werkzeuge für die Mitgeschöpflichkeit.
Historischer Hintergrund
Die Objekte des Schreins sind angelehnt an archäologische Funde aus dem Neolithikum und dem Paläolithikum, die meist in Europa gemacht wurden. Da prähistorische Objekte oft keine klare Funktion haben, kann man über ihre Verwendung im kultischen Kontext nur spekulieren. Archäologen und Evolutionstheoretiker gehen jedoch im Analogieschluss davon aus, dass die mentalen Logiken der Menschen über die Zeiten und Kulturen hinweg konstant sind. Demnach sind wir die gleichen Menschen wie unsere Vorfahren vor Hunderttausenden von Jahren, unsere Psychologie sei als Anpassung an die prähistorische Umwelt entstanden und wir trügen sie nach wie vor in uns. Nur die Welt habe sich radikal verändert.
Venus-Figurinen
Kleine Frauenstatuetten mit ähnlichen Merkmalen wurden über einen unvorstellbar langen Zeitraum von über 30 000 Jahren hergestellt. Im Kunstschatz der Menschheit gibt es keine zweite Figur mit einem vergleichbaren Einfluss. Die Frau repräsentiert im Bilderschatz die Kategorie Mensch; vergleichbare ikonische Männerfiguren fehlen bis zur Geburt Christi (Verhältnis der Funde: 1:100). Vermutlich erfüllten die Figurinen über den langen Zeitraum viele Funktionen. Es ist möglich, dass Weiblichkeit, Feuer und die Farbe Rot im Paläolithikum als Symbole der Transformation verbunden waren. Wenn an Wiedergeburt geglaubt wird, dann ist der weibliche Körper die Verbindung zur Unendlichkeit.
Kulttischchen
Die Objekte des Schreins sind, wie bei einzelnen historischen Funden, in Form von Hunden ausgearbeitet. Die Hunde sind innen hohl, es handelt sich um hermetische Gefäße. Ein hermetisches Gefäß verweigert sich seiner Funktion, da es verschlossen ist. In der Alchemie gilt es als das Behältnis der Gegensätze, das die Materie empfängt und nährt, die verwandelt wird.
Anstelle der Einritzungen von Spiralen, Dreiecken und Zickzack der neolithischen Funde tragen die Objekte heute gültige mathematische Formeln. Sie können als Beschreibung und Beschwörung der Natur mit den Mitteln des Anthropozäns verstanden werden. Die Objekte des Schreins sind gezeichnet mit der Formel:
E = m c²
Sie beschreibt den Zusammenhang zwischen Energie (E), Masse (m) und Lichtgeschwindigkeit (c). Die Formel zeigt an, wie viel Energie in der Masse eines Objektes steckt.
Kulttischchen werden von der Mehrheit der Forscher als miniaturisierte religiöse Strukturen betrachtet, die einen kultischen Raum im häuslichen Raum erzeugen sollen. Aus ethnoarchäologischer Perspektive werden die Kulttischchen mit Frauen, Feuer und Licht in Zusammenhang gebracht. Die Gebrauchsspuren sprechen für den häuslichen Gebrauch im Alltag. Archäologen wie Naumov 2011 (2011, Editura Renaissance 20113 41-579) gehen davon aus, dass im Inneren bestimmte Geschenke – jedoch keine Opfer – abgelegt wurden, die zum Teil auch konsumiert wurden.
Das darin abgelegte Material durchlief eine symbolische Transformation. Stellvertreter bestimmter Kategorien wie Nahrung, Menschen, Tiere oder Häuser wurden in einem symbolischen Prozess integriert. Einige Kulttischchen wurden vermutlich als Lampen verwendet, vergleichbar mit den Qulliq der Inuit. Es finden sich sekundäre Feuerspuren.
Amrei Wittwer: Paläolithischer Schrein im Anthropozän
18. September bis 20. November 2025
Vernissage: 18. September, 18:00 Uhr