Die Österreichische Akademie der Wissenschaften stellt die autobiografische Erzählung "Wittgensteins Neffe" frei zugänglich online. Damit eröffnen sich detaillierte Einblicke in die Entstehungsphasen des Werkes und Bernhards Arbeitsweise.
Zum ersten Mal erscheint ein Text von Thomas Bernhard zusammen mit sämtlichen Entstehungsstufen: Nach der Digitalisierung von Bernhards Nachlass in den Jahren 2015 bis -2018 legt das Austrian Center for Digital Humanities and Cultural Heritage der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) mit Zustimmung von Thomas Bernhards Erben, Dr. Peter Fabjan, nun eine Online-Ausgabe von "Wittgensteins Neffe" aus dem Jahr 1982 vor: » https://wn.ace.oeaw.ac.at
Nie menschenfreundlicher, nie zärtlicher
Laut Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki hat Thomas Bernhard "nie menschenfreundlicher, nie zärtlicher" geschrieben als in der autobiografischen Erzählung "Wittgensteins Neffe", in der es um die Freundschaft zwischen dem "verrückten" Paul Wittgenstein, einem Verwandten des Philosophen Ludwig Wittgenstein, und Thomas Bernhard geht. Der Text beginnt mit ihrer Nachbarschaft als Erkrankte: Im Jahr 1967 befindet sich Bernhard im pulmologischen Krankenhaus auf der Baumgartner Höhe, Wittgenstein in der psychiatrischen Klinik.
"Paul Wittgenstein war ein stadtbekannter Exzentriker und fanatischer Musikliebhaber", sagt die ÖAW-Germanistin Konstanze Fliedl, die maßgeblich an der neuen Online-Ausgabe beteiligt war: "Viele Personen, die im Text vorkommen, hat es tatsächlich gegeben. Trotzdem darf man die Erzählung nicht eins zu eins als Autobiografie verstehen. Bernhard hat in verschiedenen Bearbeitungsstufen biografische Details auch wieder entfernt."
Typischer Thomas Bernhard-Sound
Anhand der zwei von Bernhard getippten und handschriftlich überarbeiteten Textversionen kann man die Korrekturschritte des Autors nun ganz einfach im Web nachvollziehen. "Besonders in der letzten Überarbeitung ging es darum, Rhythmus in seine Sätze zu bringen, den typischen Bernhard-Sound zu erzeugen", so Fliedl.
Als Grundlage des edierten Textes diente die in der Bibliothek Suhrkamp erschienene Erstausgabe in dritter Auflage, welche die zuletzt von Bernhard autorisierte Version darstellt. Der basierend auf den aktuellen Richtlinien der Text Encoding Initiative, einem Standard in den Geisteswissenschaften, annotierte Volltext wird mit einem kritischen Stellenkommentar und mehreren Registern zu Personen, Orten, Institutionen und Ereignissen ergänzt. Nach einer einfachen Registrierung können Nutzer/innen kostenfrei im Internet auf die Textversionen zugreifen.
Erste digitale Bernhard-Edition
"Wittgensteins Neffe" ist die erste digitale Bernhard-Edition; "Heldenplatz" soll folgen. Bei der Auswahl der Erzählung als Pionierprojekt haben für die Akademie der Wienbezug und die enthaltene legendäre Schilderung der Verleihung des Grillparzerpreises im Jahr 1972 an der ÖAW eine Rolle gespielt. Bernhard moniert, dass ihn an der Akademie niemand erkennt, obwohl er doch geehrt werden soll.
Aber auch eine andere berühmte Szene findet sich in "Wittgensteins Neffe": die sogenannte "Jagd nach der NZZ". 350 Kilometer legt Bernhard zurück, um eine Aufführungskritik von Mozarts "Zaide" bei den Salzburger Festspielen in der "Neuen Zürcher Zeitung" lesen zu können. Er beschreibt, wie er von seinem Wohnort Ohlsdorf achtzig Kilometer nach Salzburg fährt, von dort nach Bad Reichenhall, nach Bad Hall und weiter nach Steyr. Am Ende ist Bernhard durch ganz Oberösterreich gefahren, um erschöpft zu proklamieren, dass "ein Geistesmensch nicht an ein einem Ort existieren kann, in dem er die Neue Zürcher Zeitung nicht bekommt."
Neben der skurrilen Kritik an der österreichischen Provinzialität und boshaft-satirischen Ausfällen vor allem gegen die Ärzte- und Schauspielerzunft ist der Text aber auch ein berührendes Dokument für eine tiefe und zuletzt gescheiterte Freundschaft.