Oktopus

6. Januar 2018 Bernhard Sandbichler
Bildteil

… heißt nicht nur diese Kolumne, sondern auch eine Spezies, deren erstaunliches Seelenleben die amerikanische Naturforscherin Sy Montgomery in acht Kapiteln vor uns ausbreitet und damit mehr bietet als die "verwandelnde Zauberkraft der Literatur", wie Donna Leon im Nachwort findet.

1. Die Story: Es geht um Rendezvous mit jenen fernen, sanft intelligenten Glibbertieren, über die wir nur wenig wissen, und aus dubiosen Quellen: Kraken, die giftig sind wie Schlangen, einen mörderischen Papageienschnabel haben, und Saugnäpfe, die Menschenleiber und Schiffsrümpfe verschlingen. Aus lidlosem Auge starren sie einen an wie der Basilisk.

2. Die HeldInnen: In diesem Buch klingt das anders als in Literatur und Film: "Ihr linkes Auge dreht sich in der Augenhöhle, um meinen Blick zu erhaschen. Ihre schwarze Pupille ist ein dicker Strich auf einer perlmuttfarbenen Kugel. Ihr Ausdruck erinnert mich an die Augen von Hindugöttern und -göttinnen: Abgeklärt und allwissend blickt sie weise bis tief in die Urzeit zurück." Dieser Blick gehört der sanften, anmutigen Athena, einer zweieinhalbjährigen Molluskendame. Octavia, Kali, George, Guinevere, Truman sind andere Bekanntschaften.

3. Der Sound: Sy Montgomery schildert ihre Rendezvous als reportageartige Expedition; ihre Sensationen sind tief, ihre Empathie grenzenlos, ihre Neugier diskret und aufschlussreich.

4. Coole Bilder: "Wir haben Dichtung, Tanz, Musik und Literatur. Doch selbst mit unseren Stimmen und Kostümen, mit Farbpinsel und Töpferton und all unseren fabelhaften Technologien: Unsere Ausdrucksmöglichkeiten reichen nicht im Entferntesten an das heran, was Tintenfische allein mit ihrer Haut ausdrücken können."

5. Coole Wörter: Empathie geht hier so: "Man streckt eine unsichtbare Hand aus und erfühlt den Organismus. Man muss ihnen auf halbem Weg entgegenkommen. Und man muss gewillt sein zuzuhören."

6. Zum Nachdenken: Verstand und Gefühl finden sich nicht nur beim Menschen. Schlaf übrigens auch nicht.

7. Der Autorin: Um für ihre Bücher und Filme zu recherchieren - und davon gibt es eine Menge -, wurde Sy Montgomery von einem wütenden Silberrücken-Gorilla in Zaire gejagt und von einer Vampirfledermaus in Costa Rica gebissen; sie arbeitete in einer Grube mit 18.000 Schlangen in Manitoba und behandelte eine wilde Tarantel in Französisch-Guayana; in Borneo entkleidete sie ein Orang-Utan, in Indien jagte sie ein Tiger und im Amazonasgebiet schwamm sie mit Piranhas, elektrischen Aalen und Delfinen; sie hat die Altai-Berge der Mongolei nach Schneeleoparden durchsucht und ist in den Nebelwald von Papua-Neuguinea gereist, um Halsband-Kängurus aufzuspüren; auch bei diesem Buch hatte sie die Situation immer fest im Griff, selbst wenn Hand und Arm von Tentakeln umschlungen waren.

8. Das Buch: Sy Montgomery: Rendezvous mit einem Oktopus. Extrem schlau und unglaublich empfindsam: Das erstaunliche Seelenleben der Kranken. Aus dem Englischen von Heide Sommer. Hamburg: mareverlag 2017, 336 Seiten, EUR 28,80