Es gibt wohl keinen Lebensbereich, den der 1945 in Rankweil geborene Feldkircher Fotograf Nikolaus Walter nicht mit der Kamera in allen möglichen Variationen im Bild festgehalten hätte. Trotzdem aber gibt es bestimmte Marksteine, wie etwa seine Vorliebe für das Randständige, für die Aussenseiter der Gesellschaft, für das Besondere im Gewöhnlichen, das er sowohl lokal in Feldkirch respektive Vorarlberg als auch auf seinen zahlreichen Reisen immer wieder im Bild festhielt. Oder seine Langzeitstudien, bei denen er bestimmte Motive über Wochen, Monate oder auch viele Jahre hinweg verfolgt. Ein herausragendes Beispiel dafür wären seine über Jahrzehnte verlaufenden fotografischen Untersuchungen zum Grossen Walsertal. Oder den Miteinbezug von Sprache in seine Bilder, etwa bei den Graffiti-Aufnahmen und Wandbekritzelungen. Weil es gerade zur aktuellen Zeit passt: In Basel fotografierte er einmal eine Mauer, auf der zu lesen war: "Warum müssen diese Jugendlichen immer wieder die Wände versauen?" und darunter die von anderer Hand geschriebene Entgegnung: "Gönnt Ihnen die Wände, die Alten versauen die Welt." Derart schräge Überlappungen von Sprachbildern und Bildsprache sind ein immer wiederkehrendes Element in Walters Oeuvre.
Der Zufall spielt ebenfalls eine wichtige Rolle in seinem Schaffen, auch wenn er mitunter geplant und provoziert wird. Etwa wenn er die Nonnen des Klosters St. Peter in Bludenz beim Seilhüpfen ablichtet, oder wenn beim Hundesportplatz eine Frau ihrem vierbeinigen Schössling vormacht, wie man richtig über Hindernisse springt. Hier entwickeln sich ganze Bildgeschichten. Nikolaus Walter ist also über seine Bildhaftigkeiten auch ein grosser Geschichtenerzähler.
Wobei er es wie kaum ein anderer versteht, den entscheidenden Moment, den genau richtigen Zeitpunkt zu finden, um den Auslöser zu drücken. Die von Henri Cartier-Bresson 1952 aufgestellte Theorie der Fotografie des "entscheidenden Augenblicks" findet zweifelsohne in Nikolaus Walter seine Fortsetzung. Zitat von Cartier-Bresson: "Der kreative Akt dauert nur einen kurzen Moment, einen blitzschnellen Moment des Geben und Nehmens. Gerade lange genug, um die Kamera auszurichten und die flüchtige Beute in der kleinen Kiste zu fangen."
Auch mit der Vorliebe für die Schwarz-Weiss-Fotografie setzt sich Nikolaus Walter in die Tradition Cartier-Bressons, gleichwohl mit dem Aufkommen der Digitalfotografie sukzessive auch Farbe in sein Schaffen Eingang gefunden hat.
Einher mit dem aussergewöhnlichen Bildkosmos von Nikolaus Walter geht auch stets eine grosse Melancholie, an Weltschmerz. Denn mit Betätigung des Auslösers fällt eine bestimmte Situation, ein Zustand, eine aktuelle Begebenheit unmittelbar der Vergangenheit anheim. Das Bild wird zur Reminszenz an etwas, das unwiederbringlich verloren scheint. Das Bild wird zur Dokumentation und zum Zeugnis, das in unserer eigenen Erinnerung zusehends verblassen würde.
Die Marktgasse
Wenn vorher schon von Langzeitdokumentationen die Rede war, dann fällt auch die Feldkircher Marktgasse in diese Kategorie. Denn auch für Nikolaus Walter, der trotz seiner unzähligen Reisen in alle Winkel dieser Welt ein eingefleischter Feldkircher ist, ist die Marktgasse wie für die meisten Montfortstädter zu einer Art Wohnzimmer geworden, in dem das Leben pulsiert und die zwischenmenschliche Begegnung blüht. Mit seinen Geschäften, Cafes, lokalen Unternehmen, Märkten und Veranstaltungen ist es ein vitales, lebendiges Viertel, in dem sich die Kultur und die Gemeinschaft der Stadt wiederspiegelt. Nikolaus Walter hat dies über Jahrzehnte mit der Kamera eingefangen.
Allgemein kann die Marktgasse auf eine lange Geschichte zurückblicken, war doch die Montfortstadt mit ihrer mittlerweile über 800-jährigen Geschichte mit ihren Wochen- und Jahrmärkten seit jeher das wirtschaftliche Zentrum des Vorarlberger Oberlandes. Diese Jahrmärkte waren früher wahre Volksfeste. Aber Alt-Feldkirch mit seiner Marktgasse konnte auch ein heisses Pflaster sein, bei dem man durchaus auch unter die Räder kommen konnte. Beispielsweise machte im Jahre 1618 ein achtzehnjähriger Handwerksbursche, der von Frankreich unterwegs nach Venedig war, hier Station. Es war gerade Johannismarkt und die Stadt vollgestopft mit Menschen. Der junge Geselle schlenderte durch den Markt, begutachtete die Stände mit Südfrüchten und Spezereien, mussterte die ausgestellten Handwerksprodukte und blieb schliesslich bei einer Glücksspielbude stehen, um die sich zahlreiche Schaulustige drängten. Das Lachen und Schwätzen nahm allerdings ein jähes Ende, als einem Feldkircher Handwerksmeister sein Geld abhanden kam. Man verdächtige natürlich umgehend den Fremden, den Franzosen und nahm ihn fest. Bei der Durchsuchung konnte man bei ihm tatsächlich einen Betrag finden, der ähnlich hoch war wie der Abhanden gekommene. Ob er es tatsächlich genommen hat, wird sich nie klären lassen. Jedenfalls beteuerte er seine Unschuld. Was ihm allerdings nichts nützte, denn die mittelalterlichen Richter schenkten ihm keinen Glauben und liessen ihn einen Kopf kürzer machen.
Aber das ist Geschichte – und zum Glück geht es heute nicht mehr so dramatisch zu. Und längst ist die Marktgasse nicht mehr nur Austragungsort von Jahr- und Wochenmärkten, sondern zu einem kommunikativen Dreh- und Angelpunkt geworden. Denn 1993 wurde die einst stark befahrene Gasse in eine Fußgängerzone umgewidmet. Klar hat dies dazu geführt, das alteingesessene Handelsbetriebe mit grossvolumigen und schweren Produkten wie etwa Karl Lampert, der zum Beispiel im Jahr 1954 hier das erste TV-Kabelnetz Europas verlegt hatte und dadurch Feldkirch zu einer Stadt mit Fernsehen machte, oder auch Paul v. Furtenbach abgewandert sind oder die Pforten geschlossen haben. Aber die anfängliche Bekämpfung dieser verkehrsberuhigten Zone durch die Geschäftstreibenden ist spätestens nach zwei Jahren verebbt und heute tragen alle den damaligen Entschluss mit, denn wohl nie war die Marktgasse belebter denn jetzt.
Hier versammeln sich nun etwa Strassenkünstlerinnen und Künstler aus aller Welt zum weit über die Grenzen hinaus bekannten alljährlichen Gauklerfest, hier starten Faschingsumzüge, hier wird das mehrtägige Weinfest organisiert oder man trifft sich zum Fest der Kulturen oder in der Vorweihnachtszeit beim Weihnachtsmarkt zum Glühweintrinken. Und es finden Konzerte, Lesungen oder Theateraufführungen statt. Die Wirtschaftstreibenden der Marktgasse hatten über viele Jahre einen eigenen Marktgässlerball und einen eigenen Marktgässler-Faschingsumzug. Am Faschingsdienstag machte man die Geschäfte dicht und die Inhaber besuchten sich gegenseitig und beschnapsten sich.
Seit über fünfzig Jahren durchstreift Nikolaus Walter immer wieder dieses "Wohnzimmer der Feldkircher" und zeichnet ernste wie lustige, schräge wie hintersinnige Momentaufnahmen des turbulenten Treibens mit der Kamera auf.
Orte und Strassen werden nicht zuletzt von ihren Bewohnern und Besuchern geprägt. Die Marktgasse Feldkirch hat in diesem Zusammenhang in ihrer jüngeren Vergangenheit auch viele Originale gesehen. Viele von ihnen haben ebenfalls Eingang ins Oeuvre von Nikolaus Walter gefunden.
So beispielsweise Peppi Gamper (1942-1993), der stets, mit einem langen Mantel und Hut bekleidet, barfuss durch die Stadt zog und ausserhalb jeglicher Norm stand. Mitunter hatte er unter dem Mantel nichts an, dann konnte es schon einmal passieren, dass er ins Palmersgeschäft ging, blitzschnell den Mantel öffnete, seine Nacktheit präsentierte und proklamierte "zu Ehren der russichen Hure". Städtische Insider wissen, was damit gemeint war. Und mit dem Rechtsanwalt und Künstler Gerold Hirn hatte er einen Deal, jeden Morgen ein selbstverfasstes Gedicht zu ihm ins Büro zu bringen, wofür er im Gegenzug jeweils immer eine 20-Schilling-Note erhielt. Um täglich an den Zwanziger zu kommen, lieferte er schon hin und wieder ein annehmbares Gedicht ab, zumeist war es aber ein aus dem Nichts gegriffener Schmarren, was er dem Rechtsanwalt in die Hand drückte.
Oder Olga Frick, genannt "Tschik Olga", die 70 Jahre lang in der Marktgasse eine Trafik führte, bis sie 2012 im Alter von 86 Jahren in Pension ging. Als sie damals zusperrte, organisierten Nachbarn und Bekannte spontan ein Gassenfest mit Erinnungsaustausch. Tschik Olga war dafür bekannt, dass sie alle Verbrecher im Lande kannte und nur diejenigen Leute bediente, die sie persönlich mochte. War ihr jemand unsympathisch, so erhielt er nichts. Man nannte sie auch "First Lady vom Fischerverein“, denn sie war Präsidentin dieses Vereins. Und sandte man ihr vom Urlaub aus fernen Landen eine Ansichtskarte, so genügte Tschik Olga, Feldkirch, als Adresse und die Karte kam garantiert an.
Eingefleischte Marktgässler meinen, dass man den oberen Brunnen in der Marktgasse als "Olga-Tschik-Brunnen“ und den unteren Brunnen als "Peppi-Gamper-Brunnen“ taufen müsste, um diese unvergessenen Originale entsprechend zu ehren.
Noch vor der Einführung der Fussgängerzone gab es in der Marktgasse nicht nur intensiven Strassenverkehr sondern auch horizontalen. Denn es spielte sich dort das Rotlichtmilieu ab. Die Wirtin des Ochsen akzeptierte dies, spülten doch die Schweizer Freier, die meist im Ochsen einkehrten, viele Franken in die Kassa. Ihrer Schwester hingegen gefiel dies gar nicht, sie ging mit dem Regenschirm auf die Prostituierten los. Und Hermine Weber wiederum wollte als kleines Mädchen auch so eine schöne Dame sein, wie die, die in ihren kurzen Röckchen und hohen Lackschuhen in der Marktgasse herumstolzierten. So weit ist es dann doch nicht gekommen.
Es gibt noch viele weitere Merkwürdigkeiten und Besonderheiten in der Marktgasse. So spielt an Markt- und anderen Tagen häufig der aus Irland stammende Brian O’Leary mit seiner Harmonika auf und bringt irische Volksmusiktöne in die Stadt. Er hat einen Stammplatz am Fenster des Johanniterhofes und trinkt dort immer wieder gern sein Bier.
Oder Karin Lins, die bei den Ausstellungen in der Johanniterkirche immer die Aufsichten macht. Zumeist sitzt sie in sehr bunter Kleidung wie eine Skulptur auf der Bank neben dem Eingang, bafft eine Zigarette nach der anderen und beobachtet mit wachen Augen aber stoischer Ruhe das Geschehen in der Marktgasse. Sie ist längst auch zu einem Markenzeichen der Marktgasse avanciert.
Spaziert man am Sonntagmorgen durch die Marktgasse und hört von geöffneten Fenstern her Klaviermusik, dann stammen sie zumeist von dem international bekannten Architekten Erich Steinmayr, der ebenfalls hier wohnt und seinen sonntäglichen Improvisationen am Flügel, die durchaus gekonnt sind, seinen freien Lauf lässt. Am Ende so einer Session kann es schon sein, dass hefteger Applaus die Marktgasse erfüllt, denn mitunter lauschen bis zu zwanzig oder dreissig Leute so einem frühmorgendlichen Sonntagskonzert.
Zum A und O der Marktgasse zählen natürlich die Märkte am Dienstag und Samstag mit allerlei Kulinarien sowie frischem Obst, Gemüse und auch Blumen. Als „echtes Marktweib“ bezeichnet sich etwa die fast 80-jährige Maria vom Blumenstand Frick. Für sie ist der Markt nach all den Jahren immer noch ein einziges grosses Erlebnis. Sie kennt jung und alt, arm und reich und ist mit den meisten per du. Sie freut sich, wenn Kinder mit einem Euro daher kommen und fragen, ob sie dafür eine Blume für ihre Mama bekämen. Und wenn jemand aus ihrer Kundschaft gestorben ist, so schneidet sie die Todesanzeige aus und denkt ganz intensiv an sie.
Die Geschichten über die Marktgasse wären unendlich. Allein die Historien über die Wirtschaftstreiben wie etwa Schertler, Peherstorfer, Unterberger, Vallaster, Walser, Marte, Dünser, Dörler usw. würden Bücher füllen.
Nikolaus Walter: Die Marktgasse - das Wohnzimmer unserer Stadt
Theater am Saumarkt, Feldkirch
Noch bis 31.5.2025
Tägl. v. 8-12 u. 14-17 sowie an Veranstaltungsabenden