Niederlande und Deutschland im Dialog

Mit der Präsentation "Niederlande und Deutschland. Ein Dialog im 15. Jahrhundert" wird die erfolgreiche Zusammenarbeit des Städel Museums und des Hessischen Landesmuseums Darmstadt, die im Februar 2007 mit der Ausstellung über die Anfänge der deutschen Tafelmalerei begonnen wurde, fortgesetzt. Die Grundsanierung und Erweiterung des Hessischen Landesmuseums Darmstadt, das seit dem 1. Oktober 2007 geschlossen ist, bieten den äußeren Anlass für die langfristige Kooperation der beiden Häuser.

Während des Umbaus des Landesmuseums beherbergt das Städel Museum rund 100 Werke aus Darmstadt. Die Kunstwerke aus der Zeit vom 13. Jahrhundert bis zum frühen 20. Jahrhundert werden in mehreren aufeinanderfolgenden Präsentationen in die Sammlung des Städel integriert werden und diese ergänzen. Dabei erschließen einzigartige Gegenüberstellungen von Meisterwerken beider Häuser neue Sehzusammenhänge und schärfen die Wahrnehmung spezifischer Qualitäten. Bei drei großen Ausstellungen des Städel Museums in den Jahren 2008 und 2009 zu den Themen Stillleben, Porträt und Deutsche Kunst um 1900 werden neben weiteren Leihgaben auch zahlreiche Werke aus dem Hessischen Landesmuseum Darmstadt vertreten sein. Das vierjährige Projekt bietet nicht nur eine Reihe kunsthistorischer Höhepunkte, sondern ist auch als wesentlicher Teil des Gesamtkonzeptes des Städel Museums zu verstehen, in dessen Zentrum die Vermittlung und Kontextualisierung der Sammlung stehen.

Die zweite Präsentation von Exponaten des Hessischen Landesmuseums Darmstadt im Kontext der Sammlung des Städel Museums, die durch eine hochkarätige Leihgabe aus den "Collections artistiques de l’Université de Liège" bereichert wird, ermöglicht Einblicke in die tief greifenden Veränderungen der Künste zwischen Mittelalter und Früher Neuzeit. Es waren frühniederländische Tafelmaler wie Jan van Eyck und der "Meister von Flémalle" (vermutlich identisch mit Robert Campin), die im zweiten Viertel des 15. Jahrhunderts in ihren Darstellungen eine neuartige Realitätsnähe und malerische Finesse entwickelten. Die von ihnen geprägten Innovationen gaben der gesamten europäischen Kunst eine neue Richtung.

Deutsche Maler, u. a. Stefan Lochner und der "Meister der Darmstädter Passion", orientierten sich motivisch und stilistisch an der niederländischen Malerei: Sie übernahmen Bildthemen sowie Einzelmotive und setzten sich mit der neuartigen Detailschilderung, Figurenbildung und Raumgestaltung auseinander. Die Künstler entwickelten im Spannungsfeld zwischen eigenen Traditionen und neuen Darstellungsinteressen sehr unterschiedliche Lösungen. Ergänzt wird der Blick auf die künstlerische Erneuerung und die Rezeption der niederländischen ars nova durch einzelne Skulpturen aus Darmstadt und der Liebieghaus Skulpturensammlung, Frankfurt am Main, z. B. die des "Meisters der Lorcher Kreuztragung" oder Hans Multschers, die in ähnlicher Weise wie die zeitgenössischen Gemälde zwischen idealisierender Stilisierung und frischer Naturbeobachtung changieren. Malerei und Skulptur befruchteten einander, wobei aufgrund der neuen Möglichkeiten wirklichkeitsnaher Raumdarstellung und Oberflächenschilderung die Tafelmalerei zunehmend zum Leitmedium für die weitere Entwicklung der Kunst avancierte.

Die wegweisenden künstlerischen Neuerungen der frühniederländischen Tafelmaler werden an Hauptwerken des "Meisters von Flémalle" und Jan van Eycks aus dem Städel Museum erfahrbar. Ein Paradebeispiel für den spätgotischen Realismus und gleichzeitig ein Werk, das nachweislich zeitgenössische und nachfolgende Maler in den Niederlanden und in Deutschland inspirierte, ist das Schächer-Fragment des Flémallers (Städel Museum).

Die monumentalen Figuren treten dem Betrachter durch die plastisch modellierten Volumina körperhaft entgegen. Sämtliche Details, von den individualisierten Gesichtern über die kostbaren Gewänder der Zuschauer bis zu den zerschmetterten Unterschenkeln des Schächers, sind mit äußerster Genauigkeit erfasst. Die Realitätsnähe führte zu einer zuvor nicht gekannten Präsenz des Dargestellten und veränderte das Verhältnis von Bild und Betrachter. Dies belegt besonders eindrucksvoll die "Lucca-Madonna" Jan van Eycks (Städel Museum). Der virtuose Detail- und Oberflächenverismus dient hier dazu, Maria und das Kind möglichst unmittelbar vor Augen zu führen. Eine wesentliche Rolle übernimmt die Bildarchitektur: Das Gemach Mariens ist außerhalb des Bildes weiterzudenken, der Betrachter befindet sich scheinbar im Thronraum der Gottesmutter.

Die von van Eyck und seinen Zeitgenossen entwickelten Innovationen gingen rasch in die altdeutsche Kunst ein. Als einer der ersten Künstler setzte sich Stefan Lochner mit den neuen Darstellungsweisen auseinander. Die Körperlichkeit der Personen und die wirklichkeitstreue Materialschilderung in seinen Frankfurter "Apostelmartyrien" aus den späten 1430er Jahren (Städel Museum) reflektieren vermutlich das Studium von Werken van Eycks. Auch Lochners 1447 datierte "Darbringung" (Hessisches Landesmuseum Darmstadt) nutzt die neuen Möglichkeiten der Malerei. Zur Vergegenwärtigung der Szene trägt nicht nur der Detailrealismus, sondern auch die Bezugnahme auf die zeitgenössische Realität bei. Die Darbringung findet zur Feier Mariä Lichtmess statt, zeitgenössische Bürger umgeben die neutestamentlichen Figuren. Außerdem bewirkte die an den realen Bedingungen des Ortes orientierte Lichtführung eine Verschmelzung von Bild- und Betrachterrealität.

Die namengebenden Werke des "Meisters der Darmstädter Passion" dokumentieren den eigenständigen Umgang der altdeutschen Maler mit ihren Inspirationsquellen. Der am Mittelrhein tätige Maler verfügte über ein breites Repertoire an Vorlagen niederländischer Provenienz. Er bezog sich nicht nur auf die Pioniere, sondern auch auf die zweite Generation der niederländischen Erneuerer. Der böse Schächer in der "Kreuzigung" (Hessisches Landesmuseum Darmstadt) geht motivisch auf das Triptychon zurück, zu dem einst das Schächer-Fragment des "Meisters von Flémalle" (Städel Museum) gehörte. An Gemälde von Petrus Christus aus der Zeit um 1450 – z. B. die "Madonna mit Kind und den Heiligen Hieronymus und Franziskus" von 1457 (Städel Museum) – erinnern dagegen der Bogenschütze in der "Kreuztragung" (Hessisches Landesmuseum Darmstadt), einige Kopftypen sowie die Licht-Schatten-Modellierung. Der "Meister der Darmstädter Passion" wandelte seine Vorbilder stark ab und verband sie mit anderen Anregungen zu einem prägnanten persönlichen Stil. So entwickelt die dramatische Grundstimmung der Szenen – erzeugt durch die bewegten Figurenmassen, das Kolorit und die Hell-Dunkel-Kontraste – in der früheren regionalen Kunst präsente Tendenzen weiter.

Während bei vielen altdeutschen Künstlern die Wege, auf denen sie mit den künstlerischen Entwicklungen der frühen Niederländer in Kontakt kamen – durch die direkte Begegnung auf einer Reise, über Importwerke oder Graphiken oder durch die Vermittlung einzelner altdeutscher Maler –, weitgehend im Dunkeln liegen, ist ein längerer Aufenthalt des "Meisters der Madonna von Covarrubias" in Brügge höchstwahrscheinlich. Er war vermutlich an der Illuminierung des "Turin-Mailänder-Stundenbuchs" beteiligt und bezog sich in seiner "Mariengeburt" (Kunstsammlungen der Universität Lüttich) mit der Gesamtkomposition und Motivdetails auf eine darin enthaltene Miniatur von Jan van Eyck (ausgestellt als Faksimile).

Das Streben nach einer möglichst eindringlichen Wiedergabe der Natur, als dessen geistesgeschichtlicher Hintergrund die erkenntnistheoretische Vorstellung gilt, dass die Vielfalt der Dinge und ihre verschiedenartige Beschaffenheit von der Existenz Gottes künden, prägt nicht nur Gemälde, sondern auch zeitgenössische Skulpturen. Die Gestaltung eines um 1430 am Mittelrhein entstandenen Kopfes des "Meisters der Lorcher Kreuztragung" ("Kopf eines Joseph von Arimathia", Hessisches Landesmuseum Darmstadt) basiert auf Naturstudien und zeugt von einem neuen Blick auf das Individuum. Die Plastizität des Schädels und die naturalistisch strukturierte Haut legen nahe, dass der Meister modernste niederländische Quellen verarbeitete. Dass die Tafelmalerei auch den Bildhauern wichtige Impulse gab, legt Hans Multschers sog. "Sandizeller Gnadenstuhl" (Liebieghaus Skulpturensammlung) nahe. Die Schilderung des Christuskörpers und die veristisch getönten Inkarnate sind mit Werken des "Meisters von Flémalle" vergleichbar.

Ziel der Präsentation ist es, solche Korrespondenzen, aber auch die Unterschiede zwischen niederländischen und deutschen Werken sowie Gemälden und Skulpturen aufzuzeigen und so dem Besucher einen Einblick in die Vielfalt und Dynamik des künstlerischen Aufbruchs der Zeit um 1430–1460 zu geben.


Niederlande und Deutschland. Ein Dialog im 15. Jahrhundert
25. Oktober 2007 bis 28. Februar 2008