"Nie wieder Krieg" nervt

Wir leben in Zeiten, in denen eine Kriegsmüdigkeit als Krankheit diagnostiziert und der Kriegswille gefeiert wird wie vor hundert Jahren. Wir leben in Zeiten, in denen Krieg in jeder Form zur anerkannten ultima ratio der Realpolitik geworden ist, und zum nach wie vor größten Geschäft. An der Kriegshaltung zeigen sich aber auch die tiefen Widersprüche der herrschenden Ideologien inklusive Religion, zumal radikale Moslems ihre Religion als probates geistiges Kriegsmittel einsetzen.

Interessant, fast „pikant“ ist es aber, wenn in Europa europäische Politiker nicht nur allgemein genervt sind, wenn ein Staat par tout vom Krieg nichts wissen will, sondern präzisieren und sagen, dass das vor allem bei Deutschland nerve. Denn Deutschland habe seine Rolle verantwortlich wahrzunehmen, und die heißt heute: Krieg.

Man muss sich das auf der Zunge zergehen lassen, um die Falschheit, die Perversität solch politischen Denkens auszukosten. In einem Interview mit Janusz Reiter, dem ersten Botschafter Polens in Deutschland nach der Wiedervereinigung, das unter dem schlagkräftigen Titel „Das deutsche ‚Nie wieder Krieg!’ nervt“ am 18.10.2014 in der WELT erschien, führt dieser seine Haltung aus.

Ein Lehrstück, eine Geschichtskunde, eine Warnung. Er sagt damit nicht nur über den ehemaligen Feind Deutschland etwas aus, sondern auch über sein Land und über die Europäische Union. Und über den Großen Bruder, die USA.

Zur Frage des politischen Bedeutungsunterschiedes von Deutschland vor und nach der Wende lautet die erste Antwort: „Damals fragten sich viele: Passt dieses neue Deutschland zu Europa?“. Na so was, hat sich der Herr aus dem Osten mit vielen anderen auch gefragt, ob und wie denn die kommunistischen Länder, die aus dem Ostbereich herausbrechen konnten und durch die Erweiterungsorgie der EU ihre neue Heimat fanden, hierher passen? In das „westliche“ Europa? Und wenn ja, wie differenziert die Antwort von jener bezüglich des wiedervereinigten Deutschlands zu unterscheiden ist, wo die Integration der DDR, die im Ostblock immerhin den höchstentwickelten Staat nach der UdSSR bildete, Zweifel an der Westtauglichkeit bildete?

Nach dieser Einleitung kommt der „Top-Diplomat“, von dem die WELT stolz schreibt, dass er „ein paar unbequeme Wahrheiten über Deutschland“ ausspreche, was dem eingeübten Selbststrafbedürfnis der offiziellen Deutschen ja entspricht, zur Machtfrage: „Die Frage ist heute nicht, ob es [Deutschland] zu viel Macht hat, sondern wie es seine Macht einsetzt. Viele Deutsche würden sich aber lieber heraushalten und höchstens eine Vermittlerrolle akzeptieren. Das geht aber nicht. Mehr Macht bedeutet mehr Verantwortung.“ Wenn man das mit den stereotypen Sätzen zur Kriegserinnerung vor hundert und vor 75 Jahren vergleicht, wächst das Erstaunen. Aber Krieg ist nicht einfach negativ. Nur der falsche. Die Deutschen hatten 1914 den falschen Krieg geführt, und erst recht 1939. Das war ihr Verbrechen. Sie sind schuld. Auf ewig. Niemals vergessen! Aber das heißt nicht, dass Krieg, Massenvernichtung, Terror, in jeder Form, schlecht sei oder verabscheuungswürdig. Das wäre naiv. Krieg gehört zur Politik. Es gibt einen „guten“ Krieg, einen gerechtfertigten, sogar einen heiligen. Die Deutschen lagen falsch. Wenn sie heute keinen Krieg wollen, liegen sie wieder falsch, weil sie auf der anderen Seite sind, auf der westlichen. Und wenn der Westen, also die USA und Westeuropa, heute Krieg nicht nur wollen, sondern brauchen, um sich zu verteidigen, bedeutet sich raushalten wollen, keine Kriege führen zu wollen, Feigheit und Verrat. Die Deutschen liegen immer falsch, einmal, weil sie Kriege loszettelten, einmal weil sie bremsen und nicht voll und ganz in den neuen, braven westlichen Kriegen mitmachen. Die Deutschen stehlen sich von ihrer Verantwortung.

Der Diplomat geht dann kurz darauf ein, dass der frühere Einfluss, den Staaten wie Großbritannien, Frankreich und Italien auf Deutschland ausübten, schwand, und heute nur noch Amerika ihn wahrnehme, was aber durch die deutsche Haltung gefährdet sei: „Aber hier wünschen sich viele Deutsche eher Emanzipation als Kooperation. Die antiamerikanische Stimmung macht mir Angst. Verstehen die Leute denn wirklich nicht, warum wir Amerika brauchen?“

Zwei Aspekte stechen sofort ins Auge: Der feine Herr aus Polen zimmert einen Widerspruch zwischen „Emanzipation“ und „Kooperation“. Als Mitglied der westlichen Wertegemeinschaft, der EU und als „Partner“ der USA darf nur kooperiert werden. Da müssen emanzipatorische Bemühungen negativ ausfallen, gefährlich werden, Gegenmaßnahmen provozieren: So wird der Große Bruder mit seinen treuen Vasallen gezwungen, gegen die Emanzipationswilligen aufzutreten, sie „zur Ordnung“ zu rufen. Und die Ordnung heißt ja (und wird willig von den ehemaligen Östlern unterstützt) pax Americana.

Zum Zweiten betont er die Vernunft. Es liegt doch auf der Hand, weshalb wir uns gegenseitig brauchen, warum wir froh sein müssen, dass die starken USA Europa als Partner auserwählt hat. Deshalb überrascht es nicht, dass Herr Reiter hinzufügt: „Die Kritik an TTIP ist zum Teil beängstigend.“ Klar, wenn man sich gegen den amerikanischen Einfluss wehrt, wenn Bürger von ihren Regierungen verlangen aufgeklärt zu werden, worüber verhandelt wird, was alles beschlossen werden soll, dann ist das dem Bündnis abträglich. Herr Reiter, Jahrgang 1952, hat „unter Pseudonymen politische Artikel [veröffentlicht] und beteiligte sich an der Arbeit diverser politischer Oppositionsgruppen“ (Wikipedia). Diese emanzipatorischen Aktivitäten, gegen den Warschauer Pakt, gegen die eigene Regierung gerichtet, waren natürlich gut und begrüßenswert, weil antikommunistisch. Aber dieselbe Haltung gegenüber der westlichen Leitmacht ist nicht nur bedauerlich und beängstigend, sie ist gefährlich und falsch. So einfach ist die Welt, so einfach die Logik und so simpel das Recht. Solche Wendelogiker, Wendeanpassler sind eine Gefahr, wenn wir schon von Gefahren reden.