Nesbook

Vor einigen Jahren war das E-Book ein Flop. Die technischen Errungenschaften waren der massenhaften Verwendung nicht förderlich: zu umständlich, zu schlechte Lesequalität, zu wenig Angebot. Das scheint sich jetzt geändert zu haben. Wohl auch durch das inzwischen veränderte, angepasste Verhalten zur neuen Technologie, überhaupt zu elektronischen Kleinstgeräten.

Enthusiasten meinen, jetzt werde mehr gelesen werden, weil es leichter falle, eine ganze Bibliothek im nur 250 g schweren E-Book-Reader überall hin mitnehmen zu können, weil es billiger und schneller sei. Als ob Leser je von ihrer Lektüre durch das Medium Buch abgehalten worden wären! Als ob Massen endlich mehr und überall lesen wollen: im Bett, nach dem Fick, in der Toilette, in der Badewanne, im Zug, während des Einkaufens oder der Demonstration, im Stadion oder sonst wo.

Ein Missverständis macht sich breit und verdeckt sich zugleich. Lenkt ab. Es ist wie mit dem Hören. Die permanente mediale Zugänglichkeit verfeinerte weder das Hörvermögen, noch vertiefte und verbreiterte es die Hörauswahl. Im Gegenteil. Bildung und Geschmack resultieren nicht so einfach aus technischem Geräteeinsatz. Eher führen die ipods und mobilen Multimediaapparate zu einem wenig unterscheidenden Dauerkonsum. Der äussert sich vornehmlich in Quantitäten. Es ist, um ein anderes Beispiel zu nennen, wie mit dem Fressen versus dem Essen: die neuen "Qualitäten" zeigen sich barbarisch primitiv im Vielfrass, oder, wie beim Trinken, im Suff, oder, wie bei anderen Drogen, im süchtigen Vielkonsum. Es gibt auch "geistige" Verfettung und Infarkte. Für die haben wir offensichtlich keine "Erste Hilfe". Und keine Krankenhäuser.

Es ist zwar schwer vorstellbar, dass die denkfaulen oder denkunfähigen Konsumgenossinen und Genossen je denkend lesesüchtig werden, aber für den Markt und die Kulturtechnik Lesen bzw. ihr eigentliches Medium, das Buch, wird die neue Technologie zu einem weiteren Problem.

Meine Kritik richtet sich nicht per se gegen die technischen Mittel. Als intensiver Leser nutze ich nicht nur Bücher und Zeitschriften, sondern auch elektronisch gespeicherte Texte. Ja, für gewisse Arbeiten wünschte ich, ich hätte besseren Zugang zu mehr digitalisierten Werken, einfach, um schneller arbeiten zu können. Die Elektronik als Speicher, als Such- und Arbeitsmittel. Keine Behinderung oder Konkurrenz der Druckwerke, sondern vernünftige Ergänzung. (Wer lange in dürren Registern nach Stellen sucht, die er finden möchte zwecks Zitat oder bestimmter Lektüre, weiss den Umstand zu schätzen, wenn es eine DVD vom Werk gibt.)

Die Kritik am E-Book, vor allem am Kindle von Amazon, geht tiefer: hier wird versucht, die Freizügigkeit eines Mediums aufzuheben. Mit dem Kindle kann man nur lesen, was der Gerätehersteller und Vertreiber bietet: SEINE Produkte. Aus, basta! Ein paar andere erlauben wenigstens noch, verschiedene Formate hochzuladen. Der Trend geht aber dahin, dass nur normierte Produkte zum Gerät passen, die überdies nicht kopiert oder weitergegeben werden können. So wird ein Exklusivmarkt gebildet, eine Abhängigkeit erzeugt, die einen fetten Profit garantiert.

Es ist wie mit dem Nespresso. Eine Grossfirma macht Angehörigen der Schicki-Micki-Klasse klar, dass es chic sei, Kaffe nicht nach eigener Wahl zu kaufen und in irgendeine Maschine zu geben, sondern eine Maschine zu erwerben, die NUR für jenen Kaffe taugt, den die Firma auch liefert: Abhängigkeit pur als Genuss. Die chicen Trotteldeppen kaufen und kaufen und fühlen sich modern. Solch instrumentalisierte Dummheit hat System und wird durch den Erfolg belohnt. Ohne Not geben Konsumenten Wahlmöglichkeiten, und damit Freiheiten, auf, um "modern" nur den Kaffe zu trinken, der nur in einem bestimmten Format in der dazugehörigen Maschine verwendbar ist. Das nennen sie dann "Stil" und zahlen.

Apple machte das mit dem ipod, Amazon geht jetzt mit seinem Kindle ähnlich vor. Die Wahlmöglichkeit, selber vom Netz runter zu laden, was einen interessiert, wäre ja kein Geschäft für den Gerätehersteller und Formatvertreiber. Also müssen die Kunden gebunden werden, ohne dass sie die Bindung als Abhängigkeit verspüren. Sie sollen sogar lobpreisend juchzen, dass sie den Dreck von Amazon erwerben dürfen. Bei sonstiger Gefahr, als Maschinenstürmer und altmodische Technikverweigerer stigmatisiert zu werden.

Aber es geht nicht um Technikfeindschaft. Es geht um Abhängigkeiten, extreme Bindungen. Es geht um das Unterminieren einer Kulturtechnik und eines Kulturgutes, das nie hätte entstehen können, wären früher solch schnöde Profitinteressen im Vordergrund gestanden bzw. hätten durchgesetzt werden können. Man mache sich einmal klar, was die von Amazon & Co. repräsentierte Haltung bedeutet. Wäre sie auf die Bücher übertragen, gäbe es keine Bibliotheken. Wir hätten keine Volksbildung erlebt, keine Aufklärung - und solche Fritzen wie bei den Amzons könnten gar nicht dazu gekommen sein, wozu sie kamen, dank einer Bildungspolitik, die diametral ihrem bornierten Profitdenken, der Barbarengier, entgegenstand.

Ein weiteres Moment spielt mit: die Abschaffung der Privatheit, des Privaten schlechthin. Das copy right wird so ausgeweitet, dass bald kein Zitat mehr möglich sein wird, ausser man zahlt. Die freie, private Verfügbarkeit über gekaufte Güter wird aufgehoben, weil durch die technische Entwicklung plötzlich viele Private mit vielen Privaten verkehren und austauschen können. Das darf nicht sein. Es soll nur das Eigentum des Unternehmers geschützt sein. Der Private darf seine bisherigen Privatrechte nicht aufrecht halten. Sie werden aufgehoben, wie andere Bürgerrechte. Denn sie alle gefährden den "freien Markt" und "freien Warenverkehr", der nur im unternehmerischen Sinne, als profitabler, frei genannt werden darf.

Der Kern westlicher Kultur, der Aufklärung, wird nicht primär von Dschihadisten und anderen Rabiaten angegriffen, sondern von den extremen Profiteuren, die alles in einem noch nie dagewesenen Verdinglichungsprozess zu Geld machen wollen und darüber die Kontrolle üben. Die wenigen noch existierenden Freiräume schwinden.

Es geht nicht um die Befürchtung, dass Bücher nicht mehr produziert werden, sondern darum, dass sie schier unerschwinglich, zum Elitefutter werden, weil die Mehrheit sich mit dem anderen Stoff willig abspeisen lässt. Es geht um die totale Vermarktung, nachdem der totale Krieg sich als undurchführbar erwiesen hat. Das heisst, es geht um die Entmündigung in der Zurichtung des wahllosen Konsumenten.

Bestünde eine Wahl, könnten alle technischen Hilfsmittel, auch die kommenden, sein, was sie heissen, eine Hilfe, eine Erleichterung. Doch das ist weder gewünscht, noch geplant. Allein das copy right sorgt dafür, dass Wissen als Ware verhökert wird. Hätten wir einen freien Markt des Wissens und der Bildung, dürfte es nicht diese aberwitzig langen "Schutzfristen" für Eigentümer geben. Dass es sie gibt, beweist, dass es nicht um Kultur und Bildung geht, sondern nur ums Geschäft.

Amazon wirkte nicht nur am Niedergang des Buchhandels mit, sondern startet jetzt einen weiteren Angriff auf die Buchkultur, der langfristig die Bibliotheken und Büchereien treffen wird. Und damit die Bildung. Wie gesagt, der Angriff liegt nicht im technischen Medium, sondern in der Struktur, in welcher es nach bestimmten Kriterien einsetzbar wird (sein darf).

Das andere Problem, das sich auch und besonders in der Bildungsschicht zeigt, ist das Schwinden kritischen Denkens, das sich auch darin äussert, nicht nur nach dem main stream ausgerichtet zu suchen und zu werten. Paradoxerweise erweitern die neuen Medien nicht das (geistige) Gesichtsfeld, sondern helfen, es aus Bequemlichkeit einzuengen.

Eines Tages werden zu viele den Apparaten sogar Denkaufgaben übertragen haben und sich nicht wundern, dass sie nicht selber denken. Vielleicht liege ich falsch und schätze die Mehrheit immer noch zu positiv ein. Vielleicht folgen schon zu viele zu brav den Vorgaben, dem Prefabrizierten, wie die Gläubigen den heiligen Büchern und Glaubenswahrheiten, weshalb das Allgemeindenken so stabil scheint, obwohl allerorten von Krisen gejammert wird.