Nah am Leben der "einfachen Leute": Der britische Sozialrealist Mike Leigh

Mit "Secrets and Lies" gewann Mike Leigh 1996 in Cannes die Goldene Palme, mit "Vera Drake" 2004 in Venedig den Goldenen Löwen und "Happy-Go-Lucky" begeisterte 2008 das Publikum der Berlinale. Das Filmpodium Zürich widmet dem britischen Sozialrealisten, dessen jüngster Film "Another Year" gerade anläuft (Schweiz) bzw. demnächst in die Kinos kommt (Österreich, Deutschland) eine Retrospektive.

1943 als Sohn eines Arztes, der in einem Arbeitervorort von Manchester praktizierte und lebte, wuchs Mike Leigh in zwei Gesellschaftsschichten auf: Der bürgerlichen Herkunft stand das proletarische Milieu gegenüber, in dem er seine Freunde hatte und zur Schule ging. Ersteres erleichterte zweifellos seine berufliche Laufbahn, letzteres prägt die Themen und den Blick seiner Filme.

Exzessiv besuchte Leigh zwischen 1949 und 1960 das Kino, erhielt 1960 ein Stipendium für die Royal Academy for Dramatic Arts (RADA) in London, studierte Schauspiel, führte bei einer Studentenproduktion Regie und schrieb auch selbst Stücke. Die Erfahrungen beim Theater beeinflussen stark seine Filmarbeit: Probenarbeit mit den SchauspielerInnen nimmt dabei großen Raum ein. Nur rudimentär sind Figuren und Handlung vorgegeben, der Rest wird in gemeinsamer Arbeit erarbeitet und präzisiert. Szenarien werden entwickelt, Möglichkeiten in Improvisationen durchgespielt. Während diese Vorbereitungsphase lange dauert (bei "Naked" beispielsweise vier Monate) können die Dreharbeiten, bei denen nicht mehr improvisiert wird, schnell durchgezogen werden (bei "Naked": dreieinhalb Monate).

1971 drehte Leigh mit "Bleak Moments", der Verfilmung eines eigenen Theaterstücks, seinen ersten Spielfilm und gewann damit die Hauptpreise bei den Filmfestivals von Locarno und Chicago. Doch damit war die Kino-Arbei für Leigh, ebenso wie für seine etwa zeitgleich beginnenden Kollegen Ken Loach und Stephen Frears, auch schon wieder vorüber. Desolat war in dieser Zeit die Situation der englischen Filmindustrie, nur beim Fernsehen konnte man Arbeit finden.

Eine Wende brachte erst die Gründung von Channel Four (1982), durch den innovative Regisseure wie Greenaway und Frears, Sozialrealisten wie Loach und Leigh, aber auch junge Talente wie Neil Jordan oder Bill Forsyth gefördert wurden. So konnte Leigh 1983 auf 16 mm "Meantime" und fünf Jahre später mit "High Hopes" (1988) seinen ersten 35-mm-Film nach 17 Jahren drehen. Regelmäßiges Arbeiten war nun möglich, neun weitere Filme folgten bis 2010.

Nie hat sich Leigh dabei verkauft und macht kein Hehl aus seinem Desinteresse an Hollywood. Keine "großen" Geschichten erzählt er, packt keine Action in seine Filme, sondern blickt vielmehr sehr genau auf den Alltag der "kleinen" Leute. Der Titel seines 1991 entstandenen Sozialdramas "Life Is Sweet" kann dabei auch als Motto für alle seine Filme gelten: Ironisch ist dieser Titel natürlich gemeint, aber bei aller Trost- und Hoffnungslosigkeit, die Leighs Filme immer wieder durch den genauen Blick auf ärmliche soziale Verhältnisse vermitteln, kommt gleichzeitig doch immer wieder Hoffnung durch den Zusammenhalt und die Solidarität der Figuren – oft sind es Familiengeschichten – auf.

Und im Titel "Life Is Sweet" schwingt auch die Lebenseinstellung der Figuren mit, der Wille zu kämpfen und der Glaube daran, dass es irgendwie schon weiter gehen wird. Auf Schlafen, Essen und Arbeiten reduziert ist das Leben zwar in "All or Nothing" (2002) und kein Farbton verspricht Freude oder Glück, aber in aller Aussichtslosigkeit gönnt Leigh seinen Protagonisten am Ende doch die kleine Chance auf einen Neubeginn: "Man weiß ja nie, was passiert – man könnte ja morgen im Lotto gewinnen."

Keine Hoffnung gibt es nur in "Naked" (1993), Leighs düsterstem und grimmigstem Film. Eindringlich beschreibt der britische Sozialrealist darin die Unbehaustheit seines von David Thewlis famos gespielten Protagonisten, verspottet ihn aber nie, sondern zeigt ihn als Gefangenen in seiner Situation. Wie dieser Film ein bitterer Kommentar zu den Folgen der Politik Margaret Thatchers ist, so ist das klassisch erzählte Frauenporträt "Vera Drake" (2004) eine scharfe Abrechnung mit der britischen Zweiklassengesellschaft der 50er Jahre. Leighs ganze Sympathie gilt der von Imelda Staunton wunderbar zurückhaltend gespielten Familienmutter, die einzig um in Not geratenen Mädchen zu helfen, illegale Abtreibungen durchführt. In scharfem Kontrast zu ihrer Warmherzigkeit steht die mitleidlose Rechtssprechung, die jedes Einfühlungsvermögen vermissen lässt.

Ungleich lockerere Töne schlug Leigh mit "Happy-Go-Lucky" (2008). Genervt füllte sich mancher von der stets gut gelaunten Poppy, übersah dabei aber wohl, dass hinter der heiteren Oberfläche, mit der Wohlgefühl verbreitet wurde, trotz allem aufgrund des genauen Blicks Leighs immer noch vielfältige soziale Probleme und seelische Not durchschimmerten.

Einen Ausreißer aus diesem homogenen Oeuvre stellt nur der im ausgehenden 19. Jahrhundert spielende "Topsy Turvy" (1999) dar. Leigh erzählt darin von der Beziehung des Operettenkomponisten Arthur Sullivan und seines Librettisten William Gilbert. Sozialkritik findet sich hier kaum, die Theaterwelt erscheint fast als geschlossenes System und mit viel Liebe zum Detail und opulenter Ausstattung wird ein grandioses Bild des gehobenen Bürgertums der viktorianischen Zeit entworfen. Nichts ist hier billig, eine atemberaubende Farb- und Lichtregie lassen jede Einstellung zum Kunstwerk werden. – Es scheint, als ob Leigh mit diesem Film sich und der Welt beweisen wollte, dass er auch ganz anders kann, als man es von ihm gewohnt ist.