Wir kennen die Geschichte vom "Big Brother", dem "Grossen Bruder". Es ist eine fiktionale. Wir kennen bruchstückhaft die Geschichte des realen Bruder Pol Pot. Sie ist wirklich und deshalb kaum bekannt bzw. vergessen. Auch die von seiner Nummer 2, dem Brother No. 2, dem Massenmörder und Chefideologen der Roten Khmer. Seine Geschichte ist noch kürzer. Er selbst sagt im Gerichtsverfahren, das nach über 30 Jahren endlich doch anfing, um gleich wieder verschoben zu werden, er sei weder grausam, noch schuldig. Er wisse nichts von den behaupteten Gräueln. Er erzählt eine andere Geschichte. Eine, die die Welt besser kennt als die andere.
Es waren nicht nur die Nazis, die nichts wussten oder die Mitläufer. Es waren nicht nur die Russen unter und nach Stalin, die nichts wussten oder wissen wollten. Auch in vielen anderen Ländern wissen weder die Beteiligten noch die Bevölkerungen, weder die Täter, die Handlanger, noch die Mitläufer, was war. Sie wissen auch nicht, was hätte sein müssen. Schon gar nicht, warum etwas war oder, ebenso essenziell, nicht war.
Schier unerträglich, dass nach all den Geschichtsaufarbeitungen und "Lehren aus der Geschichte" heute, jetzt, in der Gegenwart, die Erinnerung an die jüngsten Ereignisse, die nur ein paar Jahre zurückliegen (wie in Exjugoslawien, Burundi, Rwanda, Kongo etc.), nicht funktioniert, kein Wissen herrscht. Es scheint, als ob mit der einen Ausnahme des Nazihorrors, des Holocaust, die anderen Ereignisse verblasst sind oder geleugnet werden. Genozid an den Armenieren? Nein, fand nicht statt. Die paar Tötungen waren kein Genozid. Massenvergewaltigungen und Massaker oder Erschiessungen in Jugoslawien, Bosnien? Das waren die andern, die NATO. Es gab keine Massaker oder sie wurden von den Opfern selbst inszeniert.
Wenn etwas nicht wegzuleugnen ist, wird die Verantwortung unbekannten Tätern oder dem Feind zugeschrieben. Sabra und Shatila? Das war ausserhalb der Verantwortung der Israelis. Mord, Folter von und an Palästinensern? Machen sie selber. Die Israelis wehren sich nur gegen Terror. So reden auch die Selbstmordattentäter. Sie wehren sich nur. Auf Kosten anderer. Wie immer. Töten ist Teil des Geschäfts.
Wenn man auf Gewalttaten in Kenia verweist, die jetzt erfolgen, wird meist abgewimmelt. Man solle nicht immer extrem einseitig übertreiben. Hilft das den Opfern? Den Realpolitikern schon. Die wollen ja Frieden und machen deshalb Krieg. Töten als Humanakt. Weil"s nicht anders geht. Die Sachzwänge, die äusseren Umstände, das Kolonialerbe oder sonst irgendwas zwingt. Zwangstäter.
Auch im Zivilen hilft die Berufung auf den Zwang, die Verantwortlichkeit wegzuschieben. Eine Mutter töten ihre Kinder. Sie ist nicht schuldfähig, weil sie unter Drogen stand, weil sie unter schrecklichem Realitätsdruck litt. Die Kinder haben halt Pech gehabt. Jetzt muss man der Täterin, die durch ihr Leben und ihre Tat selbst Opfer wurde, helfen.
Immer öfter wird ernsthaft erwogen, die Schuldbarkeit bzw. die Verantwortung der Täterin oder dem Täter nicht zuzuschreiben. X äussere Gründe werden gesucht und gefunden zur Generalerklärung, die als Ent-Schuldigung funktioniert.
Wenn drei junge Männer einen Passanten, der ihnen in die Quere kommt, wie vor wenigen Tagen in Locarno, zu Tode prügeln, grausam erschlagen, und andere Passanten zuschauen, wie bei einem Sportereignis, dann finden sich Anwälte und Psychologen, die die determinierenden Hintergründe dieser armen Täteropfer hervorheben und Erklärungen suchen, die immer wo anders liegen, nur nicht in und bei der Person, die tötete. Es ist, als ob Böses, Grausames, Verbrecherisches nicht zur Kenntnis genommen wird, ausser es ist abstrakt. Dann wettert man los gegen "Die Neonazis", "die Islamisten", "die Terroristen".
Reflektiert wer, weshalb Männer (Gewalttäter sind meist junge Männer, denen erhöhte Triebhaftigkeit zugesprochen wird) so rasch töten, kommt die Gesellschaft auf die Anklagebank. Reicht das aus? Nein. Aber es hilft den Feigen, sich gutmenschlerisch zu gerieren. Es ist wie eine Beihilfe, die kaschiert wird.
Höhere Strafen würden nichts nützen. Nachdem geringere erst rechts nichts nützen, weshalb überhaupt strafen? Was aber sind die Alternativen? Generalverwahrung? Allgemeine Unmündigkeit? Wer kontrolliert dann als Mündiger? Wie machen wir Geschäfte, schreiben und beachten Verträge? Welche sollen weshalb für wen gelten? Welche sind Papier, das man folgenlos zerreissen kann? Wann ist es sträflich leichtsinnig zu vertrauen? Soll in jedem Verkehrsteilnehmer ein potentieller Totschläger oder Fahrlässigtöter gesehen werden?
Aufstocken der Polizei? Hm. Nachdem sogar die uninteressierte, halbnaive österreichische Gesellschaft es nicht mehr übersehen kann, dass ein Teil der Polizei organisiertes Verbrechen ist, wäre das wahrscheinlich keine taugliche Lösung. Auch wenn die Polizei lauter, ehrlich und effizient organisiert wäre: ein Staat, der die Gesetzesbeachtung nur durch Polizei erwirken kann, müsste ein Polizeistaat sein. Schon gehabt. Gestapo und NKWD. Welche Sicherheit war das für wen? Auf wessen Kosten?
Mit Terror Terror bekämpfen, mit Todesschwadronen oder folternden Polizisten gegen streunende Kinder oder Gewaltverbrecher vorgehen, hilft weder der Sicherheit noch dem Sozialgefüge einer Gesellschaft. Blosses stereotypes Reden oder Wegschauen auch nicht.
Vielleicht kommt man drauf, dass es auch mit Erziehung und Bildung zu tun hat. Mit Werten. Mit Verständnis von all dem: wer bin ich, wer ist der oder die andere, wer sind die anderen, worum geht es, sollte es gehen usw. Vorstellungs- und Einfühlungsvermögen. Fantasie. Kenntnisse. Motivation. Eine ganze Liste liesse sich hier anfügen.
Es liegt nicht am Nichtwissenkönnen. Es liegt an einer Wertkrise. An einem egoistischen, bornierten Nutzendenken. Man könnte das ro als Bestialisierung hinstellen, was gegenwärtig im Schwange ist: Verroung, Vertierung. Gezielte Senkung von Hemmschwellen. Unpersonen als Popanze, weil zu vieles so leicht, so permissiv abläuft.
Ich stocke, weil ich merke, dass ich lamentiere. Das will ich nicht. Aber wie soll dieses Dilemma benannt werden? Wie soll Stellung bezogen werden für gewisse Werte, wenn dieser Bezug wie ein Lamento klingt? Wenn niemanden mehr zugemutet werden darf, sich Treibverzicht aufzuerlegen. Den nannte Freud, der viel von Kultur und ihrer Werdung verstand, als das Um und Auf menschlichen, gesellschaftlichen Lebens. Er war ein Pessimist. Leider hat er Recht gehabt und immer noch recht.
Den kleinen, ekligen Mordbuben für ein paar Jährchen ins Gefängnis schicken mag eine kurzfristige Lösung sein. Die grossen, noblen Mörder aber nicht anfassen oder im Gegenteil sogar zu dekorieren, beweist die Verlogenheit, die Kumpanei mit dem Bösen.