Moderne auf der Flucht

Unter dem Titel "Moderne auf der Flucht. Österreichische KünstlerInnen in Frankreich 1938-1945" zeigt das Jüdische Museum Wien von 4. Juni bis 7. September 2008 eine erste umfassende Ausstellung über österreichische, zumeist jüdische Vertreter der Moderne in allen künstlerischen Genres im französischen Exil. Besonders Paris und die Côte d"Azur übten seit dem Ende des 19. Jahrhunderts vor allem auf bildende KünstlerInnen der Moderne eine magische Anziehungskraft aus. Darunter waren auch zahlreiche Österreicher, die Frankreich zunächst als Quelle der Inspiration sahen, nach der Okkupation Österreichs durch Nazi-Deutschland im März 1938 wählten viele von ihnen Frankreich dann als Land ihres Exils.

Verfolgt von den Nationalsozialisten, emigrierten u.a. die Fotografin Trude Fleischmann, der Maler Maxim Kopf und das Künstlerpaar Georg Merkel und Louise Merkel-Romée nach Paris. Andere wie die Fotografin Dora Kallmus (d"Ora) oder der Surrealist Wolfgang Paalen lebten bereits seit Jahren dort. Nach der Okkupation Frankreichs durch Nazi-Deutschland und unter dem Vichy-Regime gelang es den meisten entweder unterzutauchen oder sie emigrierten in andere Staaten. Nur Walter Bondy und Robert Kohl überlebten das Exil in Frankreich nicht.

Die Ausstellung zeichnet die künstlerische Laufbahn der wichtigsten Persönlichkeiten nach und beschreibt aus welchem Umfeld sie gerissen wurden. Gezeigt wird auch der Einfluss, den zuerst der freiwillige Aufenthalt in Frankreich und später Flucht und Exil auf das Schaffen und die Karriere hatte. Und natürlich folgt die Ausstellung exemplarisch den oft verschlungenen Wegen manch dramatischer Flucht einzelner Persönlichkeiten, die nach London, Casablanca, New York oder Mexiko führte. An keinem der Emigranten ging das Exil spurlos vorüber, da sehr viele in Vergessenheit geraten sind: Die Fotografinnen Dora Kallmus, Trude Fleischmann und Lisette Model stellen eine Ausnahme dar - sie sind auch heute noch vielen bekannt. Einige KünstlerInnen sind Kunstinteressierten noch geläufig - Josef Floch oder Georg Merkel etwa. Andere wie John H. Popper, Lilly Joss Reich oder Kurt Husnik sind heute weitgehend unbekannt.

Die österreichische Kunst der Zwischenkriegszeit hat nicht den besten Ruf. Nach dem Verlust einiger der wichtigsten Vertreter der Wiener Moderne - Gustav Klimt, Egon Schiele und Kolo Moser starben 1918, andere wie Oskar Kokoschka oder Friedrich Kiesler gingen ins Ausland - ist in Bezug auf das zum Reststaat geschrumpfte Österreich das Fehlen eines vergleichbar innovativen Nachwuchses beklagt worden. Jedoch ist für die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg allgemein ein Trend zum stilistischen Zurücknehmen zu beobachten. Charakteristisch ist (im deutschsprachigen Raum) die Entstehung eines neuen, scheinbar nüchternen, aber in Wahrheit das Krisenhafte einer Welt nach dem Zusammenbruch thematisierenden Stils: der Neuen Sachlichkeit. Zudem zeigte die Wirtschaftskrise der Zwanziger und Dreißiger Jahre auch auf dem Kunstmarkt verheerende Wirkung und schuf schlechte Rahmenbedingungen für die KünstlerInnen, ganz besonders in Österreich.

Vor diesem Hintergrund sind die Kunstwerke zu betrachten, die es in der Ausstellung zu sehen gibt. Jedenfalls darf man nicht unberücksichtigt lassen, dass die Auswahl der KünstlerInnen für Moderne auf der Flucht etwas ganz und gar Zufälliges hat: Wer als bildende(r) KünstlerIn zwischen 1938 und 1945 (die meisten flüchteten schon 1938 oder 1939) in Österreich in Gefahr war und sich entweder in Frankreich oder via Frankreich in einem anderen Land in Sicherheit bringen wollte, kam prinzipiell dafür infrage hier vorzukommen, wobei eine Auswahl getroffen werden musste: Nach Sichtung des überlieferten visuellen Materials wurde jenen Werken der Vorzug gegeben, die nicht allein qualitätvoll sind, sondern darüber hinaus - auf eine zumeist sehr subtile Weise - als Bildquellen für eine sowohl individuelle wie auch gemeinsame Erzählung von Vertreibung, Flucht und Emigration dienen können.

Die einzelnen Œuvres sind durchaus repräsentativ für die österreichische Kunst dieser Zeit. Unter den KünstlerInnen befinden sich einige der heute noch bekanntesten MalerInnen der Zwischenkriegszeit: Josef Floch, Georg Merkel und seine Frau Louise Merkel-Romée sowie Willy Eisenschitz. Der international gesehen bedeutendste von ihnen ist der Surrealist und Kunsttheoretiker Wolfgang Paalen. Erstaunlicherweise gingen keine Bildhauer ins französische Exil, dafür aber eine Reihe von FotografInnen. Die drei auch international bekanntesten sind Dora Kallmus alias d"Ora, Trude Fleischmann und Lisette Model.

Aus der österreichischen Kunstgeschichte und öffentlichen Wahrnehmung teilweise oder sogar ganz verschwunden sind jedoch MalerInnen wie Walter Bondy und Robert Kohl, aber auch Maxim Kopf, Erich Schmid, Lilly Steiner, Lisel Salzer, Rudolf Ray Rapaport, Viktor Tischler und Victor Bauer. Ähnliches gilt für die FotografInnen Hans (später John H.) Popper und Lilly Joss Reich, den Fotografen und Filmemacher Kurt Husnik, die Kunstgewerblerin Nelly Koch-Hamerschlag sowie den Architekten Otto Bauer. Bis 1938 ging jeder seiner Wege, manche waren untereinander befreundet, einige wie Walter Bondy, Josef Floch, Lilly Steiner, Lilly Joss Reich, Dora Kallmus oder Kurt Husnik lebten und arbeiteten ganz freiwillig schon jahrelang ständig in Frankreich. Andere wie die Merkels, Maxim Kopf oder Trude Fleischmann kannten Paris zwar von früheren Aufenthalten, emigrierten aber erst nach dem "Anschluss" dorthin. Heinrich Sussmann, der ab 1929 in Berlin gelebt und als Karikaturist gearbeitet hatte, war schon 1933 nicht mehr nach Wien zurückgekehrt, sondern gleich nach Paris emigriert.

In den Werken der KünstlerInnen bleibt das Thema Flucht weitestgehend ausgespart. Ausnahmen sind etwa Lilly Steiner mit ihrem apokalyptischen "Anschluss"-Bild Composition baroque von 1938, in der ein katholisches, handlungsunfähiges Österreich unter dramatisch verhangenem Himmel von einer mit leuchtenden Flammen explodierenden Bombe getroffen wird. Ein weiterer Künstler, der das Zeitgeschehen kommentierte, war Victor Tischler, der in dem um 1941/42 entstandenen Aquarell Entwurzelt und im Gemälde Mathilda"s Dream ähnlich wie Lilly Steiners Composition baroque in fast biblischer Weise das apokalyptische Unheil, das über seine Welt gekommen war, darstellt. Diese Beispiele sind allerdings Ausnahmen, die Mehrzahl der österreichischen KünstlerInnen wollte ihre Lage in ihren Werken nicht darstellen. Lieber befasste man sich, so man arbeiten konnte, weiterhin mit rein künstlerischen Fragestellungen und ließ die eigene und die Weltgeschichte außen vor.

Deutlich werden Flucht, Emigration und die Auswirkungen auf das künstlerische Schaffen erst aus den sehr unterschiedlichen Lebensläufen, von denen hier einige kurz angerissen werden sollen. In Katalog und Ausstellung erfolgt dies bei allen Künstlerinnen und Künstlern in ausführlicher Form: Als erstes Beispiel sei auf Dora Kallmus eingegangen, die ihr mit Arthur Benda geführtes Fotostudio unter dem Namen Madame d"Ora zum Treffpunkt der geistigen Eliten Wiens machte und sich in ihrem Porträtstil von der secessionistischen Kunst inspirieren ließ. Sie verließ Wien 1927 und wanderte in die Seine-Metropole aus, um dort weiterhin die Schönen und die Glamourösen in ästhetisierten Porträts festzuhalten. Junge Nachwuchsfotografen wie John H. Popper (1904-1992) und Kurt Husnik (1908-1994) probierten neue Sehweisen: Hans Poppers aus der Mitte der Dreißiger stammenden Fotos vom Prater zeigen nicht den vulgären Wurstelprater, sondern einen traumverfallenen, luxuriösen Ort. Fast meint man die fernen, nostalgisch verklärten und geschönten Pratervisionen der aus Wien stammenden Hollywood-Regisseure Erich von Stroheim und Josef von Sternberg darin zu erkennen. Ebenso filmisch ist aber auch das schwarzweiße Glitzern in Poppers wie Backstage-Szenen angelegten Modefotos, die nicht wie die zeitgleiche Modefotografie z.B. von d"Ora hochartifizielle Art Deco-Inszenierungen sind, sondern durch ihre Weichheit und scheinbare Intimität verführen. Mitte der Dreißiger war sein Kollege Husnik schon in Paris, wo er ab 1933 an der Ecole de cinématographie studierte. Sieht man seine Fotos vom Set der Dreharbeiten zum Antikriegsfilm J"accuse (1938) von der französischen Filmavantgardelegende Abel Gance und seine im selben Jahr entstandenen Fotos von der Internationalen Surrealismusausstellung im Palais des Beaux Arts, dann wüsste man gerne mehr über diesen etwa fünfjährigen Aufenthalt.

Walter Bondy (1880-1940), ein schöngeistiger Sohn aus einer reichen Industriellenfamilie, war ursprünglich aus einer anderen Lebenssituation heraus nach Frankreich gekommen: In Paris war er um 1900 einer der Mitbegründer des deutschsprachigen Künstlerkreises um das Café du Dôme. Und auch wenn er sich nacheinander intensiv mit Impressionismus, Postimpressionismus, gemäßigten Formen des Expressionismus sowie in Berlin mit der Neuen Sachlichkeit beschäftigte, bleibt seine Bedeutung als Maler marginal. Interessanter ist er als Person: Verwandt mit den Berliner Cassirers, betätigte er sich auf den unterschiedlichsten Gebieten. Seine Porträtfotos der Emigrantengemeinde in Sanary-sur-Mer sind es auch, die am subtilsten das Heraufziehen der Bedrohung des Zweiten Weltkriegs vermitteln: Während er selbst und seine ebenfalls von ihm porträtierten Kollegen Willy Eisenschitz und Wilhelm Thöny sich zwischen 1933 und 1938 noch in vollster Freiwilligkeit in Sanary aufhielten, ist dieser paradiesische Ort an der Côte d"Azur für zahlreiche Deutsche bereits zum Exil geworden. Weil vor allem Schriftsteller, darunter Thomas Mann, Lion Feuchtwanger, Ernst Toller, René Schickele, Bruno Frank und Arnold Zweig, Sanary zum Exilort wählten, konnte der ebenfalls als Flüchtling dort anwesende Ludwig Marcuse das einfache Fischerdorf ironisch zur "Hauptstadt der deutschen Literatur" erklären.


Zu der von Andrea Winklbauer kuratierten Ausstellung erscheint bei Turia + Kant ein reich illustrierter Ausstellungskatalog mit 224 Seiten und zahlreichen Textbeiträgen in Deutsch und Französisch (ISBN 978-3-85132-511-9) zum Preis von EUR 26,-.

Moderne auf der Flucht
Österreichische KünstlerInnen in Frankreich 1938-1945
4. Juni bis 7. September 2008