Menschen am Sonntag

3. Januar 2019 Walter Gasperi
Bildteil

Der Titel ist Programm: Robert Siodmak und Edgar G. Ulmer mischen in ihrem 1929 entstandenen Stummfilm dokumentarische Aufnahmen von Berlin mit einer kleinen Geschichte um vier junge Erwachsene. Das Meisterwerk, das auch als Vorläufer des Neorealismus gilt, ist bei Atlas Film in einer digital restaurierten Fassung in einem Mediabook auf DVD und Blu-ray erschienen.

"Ein Versuch" und "einen Film ohne Schauspieler" kündigt der Vorspann an. Die Protagonisten fanden Robert Siodmak, Edgar G. Ulmer und ihr Drehbuchautor Billie Wilder, der damals noch mit "ie" statt "y" geschrieben wurde, auf den Straßen von Berlin. Dass diese Laiene danach wieder in ihren Alltag und ihren Beruf zurückkehren werden (wie das Insert behauptet), stimmt zwar nicht ganz, denn zumindest teilweise strebten sie eine Filmkarriere an, doch der Erfolg blieb aus.

Kurz werden der Taxifahrer Erwin und seine Freundin, das Mannequin Annie, der Weinvertreter Wolfgang, die Komparsin Christl und die mit ihr befreundete Schallplattenverkäufein Brigitte vorgestellt. Aus der Vogelperspektive beobachtet die Kamera, wie Christl bei einem Date am Bahnhof Zoo versetzt wird und nun Wolfgang um sie herumschleicht. Wenig später sitzen sie in einem Cafe und verabreden sich für ein Treffen am morgigen Sonntag am Nikolassee.

Erwin streitet sich mit Anne, weil er lieber zuhause bleibt, als mit ihr ins Kino zu gehen. Am Abend kommt Wolfgang zum Kartenspiel und lädt das Paar ein Morgen zum Nikolassee mitzukommen. Die immer noch verärgerte Annie bleibt aber zu Hause und verschläft den Tag, Erwin kommt aber an den See, Christl bringt ihre Freundin Brigitte mit, für die sich Wolfgang zur Christls Verärgerung bald deutlich mehr interessiert als für sie selbst.

Man badet, man picknickt, man hört Schallplatten und Wolfgang und Brigitte verschwinden einmal auch im Wald. Dezent schwenkt die Kamera von ihnen weg über die Baumwipfel und dann wieder zurück, um zu zeigen, wie Wolfgang seine Kleidung wieder in Ordnung bringt. Man fährt mit einem Tretboot, wobei Wolfgang und Erwin schon wieder Kontakt zu zwei anderen jungen Frauen knüpfen. Am Ende verabschiedet man sich, man darf bezweifeln, dass es ein Wiedersehen geben wird.

Diese kleine, federleicht dahin getupfte Handlung ist die eine Ebene von "Menschen am Sonntag", dazwischen gibt es immer wieder dokumentarische Aufnahmen, die ein Gefühl vom Großstadtleben vermitteln. Man sieht ein Rugbyspiel, einen auf einer Parkbank schlafenden Mann, die Kamera von Eugen Schüfftan fährt mit Bus, S-Bahn, Auto und Motorrad mit, auf einer Wiese picknicken Familien, im Strandbad Wannsee geht es rund, ein Mann besichtigt in einem Park ein Denkmal des "Großen Kurfürsten" und ein Fotograf macht Aufnahmen von den Menschen.

Unübersehbar zitieren Siodmak/Ulmer in der Denkmalszene mit einer rasanten Montagesequenz Sergej Eisenstein, während "Menschen am Sonntag" insgesamt wie ein Gegenfilm zu Walter Ruttmanns zwei Jahre zuvor entstandenem "Berlin - Die Sinfonie der Großstadt" (1927) wirkt. Während dort der Mensch der Montage, mit der der Großstadtrhythmus vermittelt wird, unterworfen wird und ein Werktag von Morgengrauen bis abendlichen Sportveranstaltungen porträtiert wird, stehen hier die Menschen im Mittelpunkt. Nicht nur bei den Aufnahmen des Fotografen, sondern auch sonst rückt die Kamera immer wieder das menschliche Gesicht in den Mittelpunkt, feiert seine Schönheit und Verschiedenheit.

Über das Porträt des Lebens an einem freien Tag und die Flucht aus dem Alltag hinaus, ist das im Vagen und Flüchtigen der Szenen aber auch ein Film über die Vergänglichkeit, über die Unverbindlichkeit dieses Lebens. Man vergnügt sich an diesem Sonntag, aber nichts wird sich daraus entwickeln. Am Montag beginnt wieder eine Woche mit Arbeit und Alltag.

Konträr zum klassischen Kino mit Stars und einer festgelegten Handlung steht "Menschen am Sonntag" in diesem Verzicht auf jede Dramatisierung und im Blick aufs Alltägliche und vermittelt ein immer noch starkes Stimmungsbild des Lebens im Berlin der späten 1920er Jahre. Nichts an Frische und Jugendlichkeit hat dieser Film, der auch als wichtiger Vorläufer des italienischen Neorealismus gilt, verloren.

Das junge Team entfernte sich mit seinen späteren Filmen freilich weit von diesen realistischen Anfängen. Alle mussten bei oder nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten ihre Heimat verlassen. In Hollywood stiegen sie zu Regisseuren von Weltrang auf: Während Robert Siodmak zu einem Meister des Film noir wurde, wurden die B-Filme von Edgar G. Ulmer erst spät gewürdigt. Drehbuchautor Billie Wilder war im Drama ebenso wie in der Komödie und im Film noir zuhause, schuf Klassiker wie "Double Indemnity" ("Frau ohne Gewissen", 1944) und "Some Like It Hot" (1959) und gewann bei 21 Nominierungen sechs Oscars. Curt Siodmak, der die Idee zu "Menschen am Sonntag" beisteuerte, reüssierte in Hollywood vor allem als Drehbuchautor von Horrorfilmen. Zum Team gehörte als Assistent von Kameramann Eugen Schüfftan, der schon für die Tricks von "Metropolis" verantwortlich zeichnete und 1962 für seine Arbeit an "The Hustler" ("Haie der Großstadt"; Robert Rossen, 1961) gewann, auch Fred Zinnemann, dem in Hollywood mit Filmen wie "High Noon" (1952) oder "From Here to Eternity" ("Verdammt in alle Ewigkeit", 1953) ebenfalls Welterfolge gelangen.

An Sprachversionen bietet das bei Atlas Film in digital restaurierter Fassung erschienene Mediabook mit DVD und Blu-ray neben den deutschen Zwischentitel auch französische Untertitel. Als Extra gibt es den Dokumentarfilm "Weekend am Wannsee", der in Interviews mit Curt Siodmak und Brigitte Borchert, der Darstellerin der Brigitte, sowie dem Restaurator Einblick in die Entstehung des Films und das weitere Leben der Hauptdarsteller, aber auch in die schwierige Rekonstruktion bietet. Letztere wird auch ausführlich im Booklet behandelt. Als verloren gilt nämlich die Originalfassung von "Menschen am Sonntag", sieben bis acht Minuten fehlen gegenüber dieser. Aber immer wieder werden Filmschnipsel gefunden, die vielleicht zum Film gehören könnten. Langsam nähert man sich so wieder der Fassung, die am 4. Februar 1930 in Berlin ihre Uraufführung feierte.

Trailer zu "Menschen am Sonntag"