Künstler und Handwerker, Kunsttheoretiker und Proto-Installationskünstler, Meister der öffentlichen Inszenierung und Konkurrent von Auguste Rodin - Medardo Rosso war einer der großen Pioniere der Moderne und eine ebenso außergewöhnliche wie eigenwillige Persönlichkeit.
Bis heute übt Rosso, der zwar dem Impressionismus nahe stand, sich aber an den Rändern und Übergängen von Methoden, Medien und Materialien bewegte, auf viele Künstler:innen eine große Faszination aus. Zugleich ist er schwer zu fassen und - im Gegensatz zu Rodin - in der allgemeinen Wahrnehmung noch wenig bekannt. Das Mumok widmet dem Künstler eine umfassende Retrospektive mit über 50 Skulpturen sowie einer großen Auswahl an Fotografien, Fotocollagen und Zeichnungen - und knüpft damit zugleich an die frühesten Sammlungsbestände des Hauses an.
Die Ausstellung folgt dem relationalen Denken Rossos (1858-1928), der seine Arbeiten zumeist gemeinsam mit Vergleichswerken zeigte, und kontextualisiert sein Werk erstmals mit ausgewählten Arbeiten von ca. 50 Künstler:innen - u.a. Edgar Degas, Constantin Brâncuși, Louise Bourgeois, Jasper Johns, Robert Morris, Lynda Benglis, Eva Hesse, Marisa Merz und Phyllida Barlow -, die direkt oder indirekt mit Rosso in Resonanz stehen. Dabei wird deutlich, wie sich in Rossos Werk die großen Paradigmenwechsel in der Kunst des 20. Jahrhunderts ankündigen: vom Monumentalen zum Anti-Monumentalen; von der Form zum Material; von der Originalität und Einzigartigkeit zur seriellen (Selbst-)Wiederholung und Reprise; vom finalen und abgeschlossenen Werk zum Veränderlichen, zu Prozess und Ereignis; von der Autonomie zur Raum- und Kontextbezogenheit und damit schließlich auch zu einer Resonanz mit der Umwelt, zu einer wechselseitigen Beziehung von Subjekt und Objekt, von Sehendem und Gesehenem, von Berührendem und Berührtem.
Medardo Rosso war, abgesehen von einem Studienjahr an der Accademia di Brera in Mailand, Autodidakt. 1858 in Turin geboren, lebte er ab 1889 ständig in Paris, wo er zunächst zum Freund und Mitstreiter, später zum Konkurrenten von Auguste Rodin wurde.
Beide arbeiteten an einer Neudefinition des vermeintlich unmodernen, denkmalverhafteten Mediums der Skulptur. Rosso, indem er den radikalen Versuch startete, diese ans Leben heranzuführen und selbst zu „verlebendigen“. Seine bewegt-unscharfen Plastiken überwinden in ihrem intimen Maßstab, ihrer Fragilität und Offenheit nicht zuletzt die männlich konnotierte Tradition der heroischen, für die Ewigkeit geschaffenen Monumentalskulptur. Auch motivisch stellte Rosso, der sich entgegen dem aufkommenden Nationalismus seiner Zeit als Weltbürger - „in einem Zug geboren“ - verstand und sich über Grenzziehungen jeglicher Art hinwegsetzte, weniger die großen ruhmreichen Heldenerzählungen dar, sondern Menschen im Alltag, sichtbar der Zeit unterworfen sind. Rossos „unscharfe“ Skulpturen spiegeln damit nicht nur die radikalen Wahrnehmungsveränderungen seiner Zeit wider, sondern verhandeln zugleich die sozialen Umbrüche in der von massiven Modernisierungs- und Entfremdungsprozessen geprägten Gesellschaft um 1900.
Für seine Skulpturen verwendete Rosso neben Bronze, die er selbst nach der alten Methode des Wachsausschmelzverfahrens goss, auch die traditionell nur für Vorstufen zugelassenen „armen“ Materialien Wachs und Gips, die durchlässiger, formbarer und organischer waren als der herkömmliche Stein. Schließlich entwickelte er Strategien, die das Material und den Arbeitsprozess in den Mittelpunkt stellten. Wesentliche medien- und materialästhetische Überlegungen zur Skulptur und zum Verhältnis von Figur und Umraum entwickelte Rosso über das Medium der Fotografie, das er ab 1900 systematisch in den Gestaltungsprozess miteinbezog und zusammen mit seinen Plastiken als Ensembles ausstellte. Rosso selbst präsentierte sich mehrfach in öffentlichkeitswirksamen Performances beim Schaugießen in seinem Atelier und unterstrich damit - anders als die meisten seiner Zeitgenossen - seine Doppelrolle als Künstler und Handwerker.
Rosso sollte insgesamt nur etwa 40 Sujets schaffen: An die Stelle eines endgültigen Werkes trat die sich schleifenhaft wiederholende, potenziell unabschließbare Rückkehr zum einmal eingefangenen, immer wieder neu belebten Moment. Dabei bedient er sich der Reproduktionstechniken des Gießens und Fotografierens, unterlief aber die vertrauten Hierarchien von Original und Kopie, von Produktion und Reproduktion und stellte damit die Verwertungslogiken des sich kommerzialisierenden Kunstmarktes in Frage. Zugleich ging es Rosso darum, auf diese Weise mit der Welt, die er in beständigem Fluss wahrnahm, in ein Resonanzverhältnis zu treten und ihr immer wieder neu und anders zu begegnen. Gerade zu einer Zeit, in der ein Überdenken des Verhältnisses von materiellen Körpern und einer zunehmend technologisch vernetzten Umwelt immer dringlicher wird, erscheint Rossos Werk damit, um mit der Bildhauerin Phyllida Barlow zu sprechen, „alarmierend lebendig“.
Medardo Rossos rege Ausstellungstätigkeit führte ihn quer durch Europa. Seinen ersten Auftritt in Österreich hatte er 1903 im Rahmen einer Beteiligung an der Impressionismus-Ausstellung in der Wiener Secession. 1905 wurde ihm seine erste umfangreiche Einzelausstellung im Kunstsalon Artaria am Kohlmarkt gewidmet. Rossos Ausstellungspraxis, mit der er die Wahrnehmung des Publikums lenkte, fand damals große Beachtung. Der Kunstkritiker Ludwig Hevesi berichtete in seiner Ausstellungsrezension, wie Rosso seine Objekte in selbstgebauten Glasvitrinen präsentierte, die mit Eisenleisten eingefasst und unter gezieltem Einsatz von elektrischem Licht positioniert waren. Dabei legte er großen Wert auf die für die damalige Zeit ungewöhnliche Schlichtheit des Ausstellungsraumes. Eine weitere Besonderheit von Rossos Ausstellungspraxis bestand darin, dass er Werke von Künstlern wie Rodin und Kopien von Kunstwerken anderer Epochen in seine Ausstellungen integrierte.
120 Jahre nach seiner letzten Präsentation in Wien nimmt das Mumok Rossos Prinzip des vergleichenden Sehens zum Ausgangspunkt, um sein Werk im Sinne einer erweiterten Retrospektive erstmals im größeren Kontext der künstlerischen Entwicklungen des 20. und 21. Jahrhunderts zu präsentieren. In punktuellen Gegenüberstellungen mit mehr als 80 Werken von Künstler:innen aus einer Vielzahl internationaler Sammlungen wird Rossos experimenteller Ansatz als bis heute wegweisend herausgearbeitet.
Die Ausstellung entsteht in enger Zusammenarbeit mit dem Medardo Rosso Estate und ist eine Kooperation mit dem Kunstmuseum Basel, wo sie vom 29. März bis 10. August 2025 zu sehen sein wird.
Medardo Rosso
Die Erfindung der modernen Skulptur
Kuratiert von Heike Eipeldauer
18. Oktober 2024 bis 23. Februar 2025
Vernissage: Donnerstag, 17. Oktober 2024, 19 Uhr