Das ikonische Videoballett von Hans van Manen und seine neue Arbeit zu Gustav Mahlers 4. Symphonie für das Wiener Staatsballett war der Einstand, den Martin Schläpfer 2020 als Ballettdirektor gab, fünf Jahre später konnten wir diesen außergewöhnlichen Balletttheaterabend in der Wiener Staatsoper noch einmal erleben. Einzigartig, in mehrfacher Hinsicht: Mit dem Ballett „live“ hat Hans van Manens 1979 Tanzgeschichte geschrieben, und es durfte mit Martin Schläpfer erstmalig von einer anderen Compagnie als „Het Nationale Ballet“ getanzt werden; und der damals frischnominierte Ballettdirektor wollte mit seiner Uraufführung „4“ ein Werk schaffen, das dem ihm anvertrauten Ensemble – allen 101 Tänzerinnen und Tänzer des Wiener Staatsballetts – quasi auf den Leib choreografiert ist.
Es ist ein kurzes (25 Minuten) doch intensives Stück für eine Ballerina, einen Danseur Noble, einen Kameramann und eine Pianistin, das der Niederländer Hans van Manen (geb. 1932) – der sich auch einen Namen in der Fotografie gemacht hat – zu Klavierwerken von Franz Liszt kreiert hat. Es reizte ihn, Video in der Aufführung zu verwenden und damit verschiedene Ebenen zu verbinden: Der Tanz auf der Bühne wird gefilmt und auf der großen Leinwand – das einzige Bühnenbild – herausgezoomt live wiedergegeben. Zunächst nur das Solo der Tänzerin. Es entwickelt sich eine Beziehung zwischen ihr und dem Kameramann. Dann erscheint plötzlich ihr Partner, er wird als Störung wahrgenommen, das Geschehen verlagert sich ins Foyer der Oper, das Publikum im Saal wird zum Voyeur, Erinnerungen als Szenen aus dem Ballettstudio werden einspielt, die Ballerina verlässt enttäuscht (und real) die Oper, verschwindet im Regen.
Martin Schläpfer antwortet auf dieses intime Kammerspiel mit großem tänzerischem Welttheater zur 4. Symphonie von Gustav Mahler. Ist uns eigentlich bewusst, dass das Wiener Staatsballett eine der größten Compagnien der Welt darstellt, und das Staatsopernorchester die Wiener Philharmoniker sind? Der Ballettdirektor wollte seine Arbeit in Wien mit einer Uraufführung beginnen, und nicht auf der sicheren Seite mit der Einstudierung eines seiner bekannten Werke (es sind über 80!) bleiben. Schlicht „4“ nennt er sein Stück zu Gustav Mahlers 4. Symphonie, die ihn „mit ihrer hintergründigen Schönheit, ihren gefährdeten Idyllen, aber auch ihrem bösen Humor, ihren scharfen Tönen und ihrer drastischen Schilderung eines ganz und gar nicht himmlischen Paradieses“ inspirierte.
Im Bewusstsein des fehlenden Vokabulars um das Gesehene adäquat zu vermitteln, sei hier auf ein Interview mit dem Choreografen im Programmheft zurückgegriffen. Mahlers Dramaturgie der Brüche und Verwerfungen aufgreifend entfaltet Martin Schläpfer kaleidoskopartige Bilder des Menschen, voller Sehnsucht, Ausgesetztheit und Verlorenheit, traumentrückt oder sich an den großen Fragen des Lebens reibend – Szenen „wie Inseln eines gewaltigen Archipels“ untergründig miteinander verbunden. „Ich liebe es kurz und intensiv. Oft baue ich meine Stücke auf Fragmenten auf, auf der Verknüpfung unterschiedlicher Bilder“. Und die Bilder, die mit Mahlers Musik entstehen sind assoziationsreich und stark!
„Bei einem Stück für eine derart große Besetzung muss man sich natürlich davon lösen, dass nur ein Solo oder ein Pas de deux eine erfüllende Aufgabe ist. Vielmehr entfalten auch Gruppensequenzen – so man sie energetisch richtig anlegt – eine große Kraft. Für mich gibt es keine kleinen oder großen Rollen. Der Tänzer im Hintergrund wird genauso gesehen und gespürt wie derjenige in der ersten Reihe. Die Energie, Persönlichkeit und Kunstfertigkeit jedes einzelnen ist wichtig – wie viel Seele, Konzentration und Hingabe jeder gibt“. Die Sequenzen für die Einzelnen seien kurz, „das Weggehen ist niemals das Ende, das Kommen niemals der Anfang. Jeder hinterlässt energetisch und visuell seine Spuren“.
Und zum Ende im vierten Satz erscheint die erwartete Sopranistin und singt wundervoll „Der Himmel hängt voll Geigen“, das Bayrischer Volkslied aus der Gedichtsammlung „Des Knaben Wunderhorn“. Die Idylle trügt, schon wartet der Metzger auf das Lämmlein und den Ochsen, die Köchin auf die Fische, gefangen mit Netz und Köder im himmlischen Weiher … Mahlers Symphonien, dargeboten in derart hochkarätiger musikalischer Qualität, sind immer auch ein emotionales Erlebnis – doch in solch intensive tänzerische Bilder gesetzt, das ist atemberaubend. Danke!
Hans van Manen | Live
Ein Videoballett
Tanz: Claudine Schoch und Eno Peci
Kamera: Balázs Delbó
Klavier: Shino Takizawa
Martin Schläpfer | 4
Musik: Symphonie Nr. 4 G-Dur von Gustav Mahler
Dirigent: Patrick Lange
Sopran: Florina Ilie
Orchester der Wiener Staatsoper
Wiener Staatsballett