Machen Kleider Leute?

In einer Pressemitteilung der Universität Bonn über ein europäisches Altertumsforschungsprojekt, lese ich eine Behauptung, die mich aufhorchen lässt, da sie einen Gegenwartsbezug herstellt: "Der so genannte "Kopftuchstreit" ist ein brisantes Beispiel für den untrennbaren Zusammenhang von Kleidung und Identität. Ein von der EU gefördertes multinationales Forschungsprojekt untersucht jetzt, wie Menschen im römischen Reich ihrer Identität durch ihre Kleidung Ausdruck verliehen."

Hier wird der Kopftuchstreit, der politisch korrekt als "sogenannter" hingestellt wird, als Beleg für die gewagte, veraltete, überholte Auffassung, die durch die politischen Wirrnisse bedingt, wieder annehmbar scheint, "wissenschaftlich" reingeschmuggelt: es bestehe ein untrennbarer Zusammenhang zwischen Kleidung und Identität!. Ein Skandal.

Was im Altertum noch gegolten haben mag, ebenso in jenen Gesellschaften, die geschlossene waren, nicht pluralistisch, wird hier, so nebenbei, plötzlich als Allgemeinsatz für die Gegenwart festgestellt, behauptet. Damit wird alles, was über die Aufklärung und gesellschaftliche Veränderung hinsichtlich der Sozialisationsprozesse und der Ichbildungen in offenen, pluralistischen Gesellschaften möglich und Faktum geworden ist, ungültig gemacht durch die Behauptung: ja, Kleider machen Leute. NEIN!

Dort, wo Kleider Leute machen, haben wir es mit höchst unfreien Gesellschaften zu tun. Trotz der Schwächen unserer Gesellschaften ist es aber bei uns nicht wieder so weit. Wissenschaftler, die mit EU-Geld krampfhaft am Rückschlag in frühere, überholte Positionen arbeiten, leisten Bärendienste und wirken antiaufklärerisch!

Man wundert sich, ob diese Leute, die so leichtfertig Behauptungen aufstellen, überhaupt wissen, was sie damit sagen und tun. Denn wenn Kleider die Identität bedingen, sprechen wir von einer Identität, die anders ist, als die der Persönlichkeit, die im Sozialisationsprozess jenen Grad an Ichstärke erworben hat, die gerade deshalb viele Rollen persönlich, "souverän" einnehmen kann, die Identität nicht aber von äusseren Rollenmerkmalen, z.B. Kleidung, holt. Kleidungsstücke können gar nicht Persönlichkeitsidentität liefern, sondern nur Rollenidentität. Bei einigen, wie den Burkas, geht es gerade um die Verhinderung des Ausdrucks von Person oder gar Persönlichkeit; sie muss verdeckt werden. Ähnliches liegt bei Uniformen vor und Gefängnis"kleidungen".

Der Zusammenhang von zwangsweiser Kleiderordnung und Verdinglichung ist offensichtlich: nicht der Mensch als Person gilt, sondern seine im System ihm zugewiesene, oktroyierte Rolle als Nummer, als Ding. Solch einen Zusammenhang für die Gegenwart zu formulieren ist Humbug, zumindest in den westlichen, pluralistischen Gesellschaften.

Oder ist es bewusste Kollaboration mit der Aufweichung pluralistischer, aufgeklärter Formen und Sozialisationsmöglichkeiten? Schwelt und keimt hier vielleicht eine Anpassungssucht an frühere Formen? Stellen diese Wissenschaftler nicht nur vermeintlich fest, sondern wünschen es insgeheim, reden es herbei?

Sollte der Einleitungsabsatz nur aus medientaktischen Gründen geschrieben worden sein und nicht die Meinung und Haltung der Wissenschaftler wiedergeben, bewiese der Umstand dennoch, wie schlimm es um zentrale Werte steht. Dass in einer Pressemeldung einer Universität so eine Aussage kolportiert wird, empört.

Damit wir, offenbar, nicht nur etwas von den alten Römern erfahren, sondern auch von heute. Und zwar im kruden Bogen auf heute bezogen. Einfach so. Ganz modern politisch korrekt. Falsch.

Aber Kleider machen in unseren Gesellschaften keine Leute. Die rumänische Romni ist gekleidet wie die Wienerin, der sizilianische Manager erscheint nicht wie das Mafiaklischeebild und Polizeibeamte in "Zivil" unterscheiden sich nicht von anderen, seien sie Bartträger oder Biertrinker oder oder ... Man kann den Kleidungen nicht mehr zuschreiben oder von ihnen ablesen, ob die Person "amtlich" ist oder Mitglied eines bestimmten Berufsstandes, man sieht nicht mehr das Sozialstratum, denn chice und teure Modekleidung kann sich auch einer erwerben, der es in Vorzeiten nicht gedurft hätte.

Trachten gibt es auch bei uns in den ländlichen Gegenden, aber sie haben ihre selbstverständliche Verbreitung und Funktion in dem Masse verloren, wie auch der rurale Bereich sich öffnete und modernisierte. Das Geschäft mit den Trachten und ihren pseudomodernen Abwandlungen weicht die früheren Zuschreibmöglichkeiten ebenfalls auf.

"Fremde" erscheinen fremd aus anderen Gründen, denn der Kleidung. Und dort, wo eine Tracht oder Uniform eine bestimmte Rolle ausweist oder zuschreiben lässt, wäre es ein Affront bzw. eine Beleidigung, diese Zuschreibung "total" zu nehmen und damit die Person auf diese Rolle zu reduzieren. Auch der Soldat oder Offizier, der Polizist oder die Feuerwehrfrau sind mehr, als die Zeichen der Kleidungskodes indizieren. Würden sie darauf reduziert werden, vergewaltigte man sie. Niemand Vernünftiger macht das mehr in unserer Zeit. Das heisst, wer es macht, folgt alten, obsoleten Vorgaben und Einstellungen.

Denn Zeichen (Kleidung ist ein Ensemble von Zeichen) müssen im Kontext gedeutet werden. Das heisst, in einer Gesellschaft, in der es keine zwingenden Alltags-Kleiderordnungen gibt bzw. nur solche, deren Bruch vielleicht Irritation, nicht aber rigide Sanktion nach sich zieht, ist eine andere Folie zur Interpretation, als jene Gesellschaft, in der der "rollenwidrige", eigene Kleidergebrauch zu drastischen, dramatischen, fatalen Sanktionen führt.

Die Muslimin, die geschlagen oder gesteinigt wird, weil sie sich nicht verhüllt, lebt in einem anderen Regelsystem als unserem. Das Tragen eines Kopftuchs dort, wo es "Pflicht" ist, eignet eine andere Qualität als dort, wo es nach eigenem Gutdünken geschieht. Die Zuschreibungen, die solch ein Zeichen auslöst, sind nicht simpel als Identifikationen zu interpretieren. Dort, wo Kleidung frei gewählt werden kann, werden in einem gewissen Grade "Werte" zugeschrieben (ähnlich wie beim Stil und Geschmack, ein hoch komplexer Vorgang!), nicht aber rigide oder fix Identitäten. Das ist schon deshalb nicht möglich, weil der Kleiderwechsel dann einen Identitätswechsel nach sich zöge bzw. bedingte.

Erst das Wissen oder die Annahme, dass die Kleiderwahl zwingend ist, fordert geradezu stärkere Zuschreibung. Mit der Aussage "Kleider machen Leute" wird so getan, als ob generell solche Zuschreibungen erfolgen und diese zudem identitätsbildend oder ausdrückend seien. Das ist nicht der Fall. Müssen wir sagen: noch nicht wieder?