Literaturgewichte

Der heurige Literaturnobelpreis an den chinesischen Autor Mo Yan hat fast mehr Reaktionen auf politischer und ideologischer Ebene bewirkt, als literarische. Das ist symptomatisch gerade für unsere "westliche" Kultur, die mehr und mehr nicht nur in einer wirtschaftlichen und politischen Krise steckt, sondern auch einer kulturellen.

Literarische Fragen scheinen ein Feld zu bieten für "Stellvertreterkriege", für ideologische Auseinandersetzungen. Wenn aus der moslemischen Welt Aussagen strikt bornierter, religiöser Art erfolgen, meinen wir, daran schon gewöhnt zu sein. Diese antimoderne Kultur ist nicht nur geschlossen und jeder Neuerung feindlich gesinnt, sondern auch intolerant. Das erfahren überaus schmerzlich jene Kräfte, die sich im sogenannten "arabischen Frühling" dagegen auflehnten. Im Geistigen stehen nicht nur die Verfemten wie Salman Rushdie als Beispiel; auch viele andere haben, wie der türkische Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk, unter Angriffen und Zensur zu leiden.

Das Nobelpreiskomitee verblüfft immer wieder mit seinen Entscheidungen. Auch letztes Jahr rief die Wahl des schwedischen Dichters Tomas Tranströmer bei vielen Erstaunen hervor. Nun, dieser Autor gab und gibt nichts her für politische Spekulationen. Bei ihm geht’s um Dichtung. Für das breite Publikum mag am erstaunlichsten gewesen sein, dass sein Werk insgesamt unter 500 Seiten liegt. Damit steht er in krassem Gegensatz zu den Vielschreibern und zu den Produkten, die heute den Markt bestimmen. Aber nicht nur vom Umfang her entsprechen seine Arbeiten nicht den gängigen Vorstellungen, sondern seine extreme Reduktion widerläuft der heute üblichen Geschwätzigkeit.

In der gegenwärtigen ichbezogenen Autobiografieliteratur dominieren die "Schinken". Wir erleben einen Neuaufguss eines eigentümlichen "Naturalismus" in einem befremdlichen Authentizitätsverständnis, das meint, fiktionale Literatur sei obsolet, sei falsch. Die präzise Darstellung der Wirklichkeit sei geboten, und das nicht nur auf hunderten Seiten, sondern auf tausenden.

Wie einzigartig, dass da ein schmales Werk Beachtung erlangt und gepriesen wurde. Wie ein Signal, dass nicht nur Quantität gelten soll, sondern Qualität. Nach den approbierten Maßstäben ist Quantität in Kontinuität selbst schon Qualität. Die ausufernde Massenproduktion entspricht dem Marktprinzip der Massengesellschaft. Dass, wer anders denkt, nicht immer (freiwillig) ins Irrenhaus geht, sondern hie und da von eben dieser Gesellschaft dennoch beachtet wird, verdient höchste Würdigung.

Es gibt etliche Autoren, die sich, wie Tranströmer, als Autoren verstehen und etwas zu sagen haben. Die keine bloßen Rapporteure sind, keine Buchhalter der Literatur, keine Widerspiegler (in einem adaptierten, veränderten Verständnis der Widerspiegelungstheorie von Lenin). Dieses Phänomen scheint mir besonders bemerkenswert, weil diese Art Autoren und diese Art Literatur am Verschwinden scheint.

Es würde dem geistigen Verständnis helfen, wenn literarische Aspekte wieder mehr Beachtung fänden vor den anderen des Marktes, der Ideologie. Das heißt nicht, dass man Politik und Ideologie vergesse, sondern nur, dass man Kunst, die Dichtung "auch" ist, auch künstlerisch wertet. Sollte das zum Luxus, zum Privatvergnügen heruntergekommen sein?

Einfache Gedichte, die aber nicht so einfach sind, wie sie den meisten erscheinen, Geschichten, die fiktional sind, und sich dessen nicht schämen, haben es in unseren Zeiten besonders schwer.

Der literarische Markt ist widersprüchlich. Das belegen unter anderem die umfangreichen fiktionalen Geschichten der Harry Potter-Reihe von Joanne K. Rowling, die Millionenauflagen erreichten und Jugendliche dazu brachten, nicht nur vor dem Monitor zu sitzen, sondern dicke Wälzer zu lesen. Keine Ichliteratur, kein authentisches Familiengesellschaftsdrama.

Dem gegenüber stehen aber die gewichtigen Arbeiten, die sozusagen den Authentizitätswahn, die Sucht nach Wirklichkeit, die ich vorher ansprach, dokumentieren, in denen die plausible, oft nachprüfbare Realitätswiderspiegelung zum Maßstab wurde. Literatur, die einerseits nicht mehr Literatur sein will, andererseits mehr als sie, man denke nur an Karl Ove Knausgård oder J. J. Voskuil.

Wie tröstlich, dass es neben "Harry Potter", "Min kamp", "Satanische Verse" oder "Der Überdruss" auch "Das große Rätsel" gibt.