Lied ohne Worte in G-Nur

20. April 2011 Rosemarie Schmitt
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Es gibt solche und solche. Zum Einen, diese wunderbaren Menschen, die Klavier spielen, gänzlich unmusikalisch zwar, doch voller Liebe und Güte. Und zum Anderen, die äußerst musikalischen, ganz wunderbaren und herausragenden Pianisten, begabte Musiker, und voller Liebe, du liebe Güte, nur für sich selbst. Von einem der letzeren erzählt die Schriftstellerin Sofia Tolstaja in ihrem Roman "Lied ohne Worte".

Sie beschreibt die unglückliche Liebe der ebensolchen Alexandra Alexejewna, genannt Sascha. Wie in den meisten Romanen russischer Schriftsteller verwirren mich die unterschiedlichen Namen für eine einzelne Person. Sascha also, deren Name Alexandra Alexejewna ist, ist verheiratet und unglücklich. Auch, weil sie den Tod ihrer Mutter in eine tiefe Traurigkeit stürzt und ihr Mann, Pjotr Afanassjewitsch (ist es nicht auch verwirrend, daß die Eheleute unterschiedliche Namen haben?), sie nicht zu trösten in der Lage ist. In dieser niedergeschlagenen Stimmung hört Sascha aus dem Nachbarhaus das Klavierspiel des Iwan Iljitsch. Es ist so zufällig im Mai, wie es Felix Mendelssohn Bartholdys "Lied ohne Worte" in G-Dur ist, das Lied Nr. 25, das wiederum zufällig den Titel "Mailüfte" trägt. Und so kommt es, daß Sascha den "Frühling zu spüren" beginnt. Und sie hört das "Lied ohne Worte" in G-Dur. Doch dann, ein plötzlicher Tonartwechsel, von Musikern gerne eingesetzt, um den Spannungsbogen auszudehnen. Und aus G-Dur wird G-Nur...

Zunächst ist sie davon überzeugt, diese Liebe gelte alleine der Musik, doch als sie dem Pianisten begegnet, überträgt sie all ihre zarten Empfindungen, die sie für diese Musik hegt, auch auf den Musiker. Kann es denn anders sein, daß ein Mann, der so wundervoll, zärtlich und berührend das Piano zu spielen vermag, kann es denn gar anders sein, als daß dieser Mann nicht ebenso ist? Ja, liebe "Sascha", es kann! Denn um dies den Lesern zu erzählen, deshalb schuf die kluge und lebenserfahrene Sofia Tolstaja, Dich und diese Geschichte. Und Frau Tolstaja wusste, wovon sie sprach. Schließlich war sie fast ein halbes Jahrhundert mit Lew Tolstoj verheiratet. Und diese Ehe war, das weiß Gott, und wahrscheinlich auch Sie, liebe Leser, nicht leicht. Die Tolstojs arbeiteten stetig und immer wieder daran, ihre Ehe sowohl zu zerstören, als auch wieder aufzubauen. Beide waren ganz besondere Menschen. Besonders intellektuell, ungeduldig, streitsüchtig, kreativ, willensstark und zur Hysterie neigend.

Sofia Tolstaja war ihr Leben lang so, und Lew (auch Leo genannt) Tolstoj hatte so seine Phasen, in denen er entweder dies oder jenes mehr oder weniger war. Mit fortschreitendem Alter ging ihm so ziemlich alles auf die Nerven, was er einst in jungen Jahren haben wollte und auch bekam. Wie so viele kluge Köpfe, beschäftigte sich auch der des alternden Tolstoj mit der Frage des Habens und des Seins. Die Frau, die Kinder, das Haus, alles was er "besaß", begann er abzulehnen, all das, was man gemeinhin als das zu einem normalen Leben gehörend, bezeichnet. Alles Eigentum wurde ihm eigentümlich. So war Lew Tolstoj ge- ver- oder eingewickelt in dieses normale Leben. Also entwickelte er sich, was zur Folge hatte, daß er seine Familie verließ, um sich in selbst geklöppeltem Schuhwerk auf den Weg nach irgendwo zu machen. Doch Irgendwo lag sehr viel näher als erwartet, denn wie bekannt, kam Tolstoj nicht sehr weit. Sein Weg und sein Leben endeten in einem Bahnwärterhäuschen in Astapowo. Und nun machte Sofia Tolstaja sich auf den Weg, zunächst zum Bahnwärterhäuschen und dann zu einem noch neun Jahre währenden Leben ohne Gatten.

Sofia war viel mehr als nur die Ehefrau den großen Lew Tolstoj! Sie war eine starke, blitzgescheite, treue Frau und Schriftstellerin. Beachtenswert eben! Wenn Sie mehr über sie erfahren möchten, wenn Sie sich auch in der Kunst verstehen, zwischen den Zeilen zu lesen, so lesen sie ihre Romane "Eine Frage der Schuld" und "Lied ohne Worte". Oder lassen Sie vorlesen. Sollte es Ihnen an einem geeigneten "Vorleser" mangeln, so kann ich die im Januar bei "Steinbach Sprechende Bücher" erschienene (im Vertrieb von Inakustik) Hörbuchfassung "Lied ohne Worte" empfehlen. Aber nur, wenn wirklich niemand Ihnen vorlesen möchte, und sie unter keinen Umständen das Lesen des Buches vorziehen. Aber wer weiß, vielleicht mögen Sie ja das Hörbuch und die Stimme von Sonja Beißwenger (sie ist keine Russin und hat deshalb auch nur diesen einen Namen). Ob Sofia Andrejewna Tolstaja ihr die Stimme der Sascha (Alexandra Alexejewna) geliehen hätte?

Es gibt solche und solche, und so oder so, "Lied ohne Worte" von Sofia Tolstaja ist ein eindrucksvoller Roman, voller Leidenschaft, voller Lieder ohne Worte, voller Lebenserfahrung (zwischen den Zeilen) und Wahnsinn (letzte Zeile).

Herzlichst,
Ihre Rosemarie Schmitt