Land in Sicht

Landschaftsbilder waren schon immer Ausdruck gesellschaftlicher Vorstellungen. Sie erzählen auf eindrückliche Weise von unseren Sehnsüchten, Träumen und Ängsten. Wer sie zu lesen versteht, wird die Welt mit neuen Augen sehen. Spätestens seit Beginn der ökologischen Diskussion ist ein unbeschwertes Erleben von Natur kaum noch denkbar. Natur wird zum moralischen Gegenbild der eigenen Kultur. Aber auch politische und soziale Missstände rücken ins Blickfeld. Der deutsche Künstler Anselm Kiefer bringt es auf den Punkt: "Es gibt keine Landschaft, die völlig unschuldig ist."

Die Weserburg, Bremens Museum für moderne Kunst, versammelt mit ihrer großen Sonderausstellung annähernd 100 Landschaftsbilder aus vier Jahrhunderten. Von Gustave Courbet bis Roy Lichtenstein, von Joos de Momper bis Gerhard Richter entfaltet sich ein eindrucksvolles Panorama. Es reicht von der niederländischen Malerei des 17. Jahrhunderts bis hin zu aktuellsten Positionen der Gegenwartskunst. Neben Malerei werden auch historische und zeitgenössische Fotografien sowie Videoarbeiten gezeigt. Das scheinbar Bekannte erfährt in der thematischen Gegenüberstellung von Alt und Neu eine überraschende Aktualität und Neubewertung, während Zeitgenössisches in seiner historischen Dimension verstanden werden kann.

Stan Douglas zeigt in seiner Fotografie ein faszinierend schönes Bergpanorama. Die Idylle wird jedoch durch eine qualmende Industrieanlage gestört. In diesem Sinne installiert David Teniers d.J. in seiner idyllischen Landschaft (1637) ein massives Galgengerüst und öffnet damit den Blick für eine Landschaftssicht, die im freundlichen Naturausschnitt das Abgründige erkennen lässt. Das ist ein zentrales Thema der Landschaftskunst, wie wir sie heute nicht nur bei Anselm Kiefer wiederfinden, sondern auch bei vielen anderen Künstlerinnen und Künstlern. Der Fotograf Richard Mosse zeigt ein traumhaft schönes Tal in pinkfarbener Tönung, in das ein großes Flüchtlingscamp eingebettet ist mit Tausenden von Menschen, die ihre Heimat im Kongo verloren haben.

In den dokumentarischen Aufnahmen der US Navy über Atomversuche auf dem Bikiniatoll spiegelt sich eine entsetzliche Schönheit der Wolkenformation, die unsere Wahrnehmung zutiefst verunsichert. Vor solchem Hintergrund gewinnen Roy Lichtensteins poppige Bildzeichen, die Landschaften evozieren, einen neuen Sinn. Sie zeigen, dass der unschuldige Blick in die Natur verloren gegangen ist. Wir sehen, was wir erwarten und zu kennen glauben, aber auch das, was wir nicht wahrnehmen wollen.

Selbst in den Landschaftsbildern Gerhard Richters, die auf den ersten Blick einer romantischen Bildauffassung verpflichtet sind, finden sich bewusste Störungen und Brüche als Zeichen eines zivilisatorischen Eingriffs und einer nicht mehr heilen Natur. So wird die Ausstellung in der Weserburg zu einem Ort der Entdeckungen, wo Vertrautes neu wahrgenommen werden kann. Sehnsuchtslandschaften offenbaren ihre unerwartete Bedrohung und erweisen sich gerade dadurch als faszinierende Kunstwerke.

Künstlerinnen und Künstler: Pierre Bonnard, Lovis Corinth, Gustave Courbet, Stan Douglas, Ger van Elk, Thomas Florschütz, Jan van Goyen, André Kertész, Anselm Kiefer, Almut Linde, Roy Lichtenstein, Hiroyuki Masuyama, Joos de Momper, Richard Mosse, Aert van der Neer, Simone Nieweg, Arnulf Rainer, Franz Radziwill, Odilon Redon, Michael Reisch, Gerhard Richter, Jacob van Ruisdael, Charles Soutine, Dirk Skreber, David Teniers d. J., Wolfgang Tillmanns u.v.a.


Land in Sicht
400 Jahre Landschaftsbilder
14. März bis 27. September 2015