Lampreia, Lamproie, Lamprete

22. Oktober 2012 Kurt Bracharz
Bildteil

Die Neunaugen oder Petromyzontide sind eine in mehrfacher Hinsicht bemerkenswerte Tierfamilie mit rund 40 Arten in 6 Gattungen. Die auch Lampreten genannten aalähnlichen Tiere sind keine Fische, sondern eine der beiden überlebenden Gruppen von kieferlosen Wirbeltieren (Agnatha), die erdgeschichtlich den mit Kiefern ausgestatteten Fischen vorangegangen sind. (Die andere sind die Inger, die von den Zoologen trotz großer Ähnlichkeit als nicht mit den Neunaugen verwandt betrachtet werden.)

Die Neunaugen haben einen als Saugscheibe mit kompliziert angeordneten hornigen Zähnen ausgebildeten Mund, mit dem sich die parasitischen Arten in die Haut von großen Fischen verbeißen, diese aufraspeln und dann das Blut und die Körperflüssigkeiten ihrer Wirte aufsaugen. Dabei können an einem Fisch mehrere Neunaugen gleichzeitig schmarotzen. In den Großen Seen in Nordamerika gab es eine florierende Forellenfischerei, bis 1829 der Welland-Kanal eine direkte Verbindung zwischen Ontariosee und Eriesee herstellte, die den Meerneunaugen das Eindringen in den Eriesee ermöglichte. Die neue Tierpopulation breitete sich zwar nur langsam aus, aber Mitte der 1950er Jahre dezimierten die Parasiten in Erie-, Huron- und Michigansee und im Lake Superior die Forellenbestände radikal, und alle Versuche zur Bekämpfung der Neunaugen und zur Auffrischung der Forellenbestände blieben vergeblich.

Die als Querder bezeichneten blinden Larven der Neunaugen haben noch keine Raspelzähne, sondern einen von Zirren umgebenen Mund unter einer Hautkapuze. Sie leben in Röhren im Boden, aus denen sie den Kopf herausstrecken, um Nahrung aus dem Wasser zu filtern. Die meisten Neunaugenarten verbringen den größten Teil ihres Lebens in diesem Larvenstadium, und bei der Metamorphose zum erwachsenen Tier sterben viele, wenn sie beim Umbau ihrer Mundpartie am eigenen Schleim ersticken. (Bei der Zubereitung von Neunaugen muss der Schleim auf ihrer Haut sorgfältig entfernt werden, weil er zu heftigen Magenreizungen führen kann.) Die erwachsenen Tiere suchen ihre Wirte mit den Augen, die sich während der bis zu acht Monate dauernden Metamorphose geöffnet haben. Der deutsche Name "Neunauge" kommt daher, dass volkstümlich die sieben getrennten Kiemenöffnungen pro Seite und die Nasenöffnungen als "Augen" mitgezählt wurden.

Wissenschaftlich besonders interessant sind die Neunaugen, weil sie als die einzigen lebenden Vertreter einer vor 400 Millionen Jahren ausgestorbenen Tiergruppe ein Immunsystem haben, dessen Antikörper völlig anders aufgebaut sind als die Immunglobuline der Vorläufer des stammesgeschichtlich ja doch auch weit zurückreichenden menschlichen Immunsystems.

Gastronomisch interessant sind die Neunaugen vor allem in Portugal, wo Lampreia, das Meerneunauge Petromyzon marinus, als Delikatesse gilt. Nico Böer schreibt darüber in "Fische der Algarve", Luz Tavira 2003: "In der Regel geht dieser Vertreter der kieferlosen Rundmäuler sofort an Restaurants und Leute mit guten Beziehungen. Die seltenen Exemplare von über einem Kilogramm Gewicht kosten etwa so viel wie ein Satz neuer Reifen. Inwendig betrachtet besteht der aalstarke Schmarotzer großteils aus dem Blut, das er seinen Opfern abzapft. (...) Ein nach dem Ausnehmen blutloses Neunauge ist wertlos, denn das Blut sorgt für die schwarze Sauce im Reis, auf die es beim Nationalgericht "Arroz de Lampreia" ankommt, die paar Stückchen Fisch darin fallen letztlich kaum ins Gewicht. Dessen ungeachtet übt das urtümliche Wirbeltier eine unwiderstehliche Anziehungskraft auf Lusitaniens Feinschmecker aus, die bereitwillig einen Monatslohn für eine Portion Neunaugenreis hinblättern."

Auch in Frankreich wusste und weiß man das Neunauge zu schätzen. Alexandre Dumas gibt in seinem "Großen Wörterbuch der Kochkunst" drei Rezepte an (Lamprete in süßer Sauce, Lampreten-Tartare und Lamprete mit Pilzen) und erwähnt, dass die Stadt Gloucester dem englischen König oder der Königin jährlich eine Lampreten-Pastete präsentiere. Und er kennt noch eine Besonderheit: "Die jungen Lampreten sind besonders geschätzt und der Laich, den man Sieben-Auge nennt, gilt als Hors-d’oeuvre von außerordentlicher Delikatesse. Für gewöhnlich kommt er aus Rouen oder Barfleur, wo man ihn in Krügen mit frischer Butter, Sauerampfer-Püree und feinen Kräutern verschickt."

Das Foto zeigt den Inhalt einer Konservendose "Lamproie à la Bordelaise" der Firma Lafitte in Montaut, Landes. In einem Blindversuch vorgesetzt, würden diese Neunaugenstücke wahrscheinlich für solche eines ungewöhnlich magereren und weichen Aals gehalten. In "Seafood" (Teubner Edition, Füssen 1998) heißt es über Lampreta fluviatilis: "Das Flussneunauge spielte früher eine große wirtschaftliche Rolle. In der Elbe wurden jährlich 5 Tonnen gefangen. (...) Kenner schätzen sein Fleisch höher als das des Aals ein." Als die Lieferung von Neunaugen noch kein Problem war, konnte man in dem Band "Illustriertes Kochbuch von Lina Morgenstern", Nordhausen 1905, zwei Lampretenrezepte lesen:

"Frische Neunaugen zu kochen.
Die Neunaugen werden gebrüht, abgeschuppt, aufgeschnitten, ausgenommen und gewaschen. Dann legt man sie in einen Kessel ohne Wasser, bestreut sie stark mit Salz und läßt sie darin laugen, nimmt sie dann heraus, schleimt sie mit Wasser und Salz ab und schneidet sie in Stücke. Man hält dies Auslaugen in Salz für nötig, weil sie sich dadurch eines Giftes entledigen sollen, das sie vielleicht nicht einmal an sich haben. Die abgetrockneten Stücke wälzt man in Butter, bestreut sie hierauf mit feiner Semmelkrume und brät sie bei gelindem Feuer auf dem Rost. Man richtet sie nun mit einer braunen Soße an, welche von Butter, etwas gebräuntem Mehl, kleinen Zwiebeln, gehackter Petersilie, gehackten Champignons, einigen Kapern, einer Sardelle, Pfeffer, Salz und etwas Fleischextrakt gemacht wird.

Neunaugen mariniert.
Man kocht die gesäuberten Neunaugen mit Wasser, Salz und Essig kurze Zeit, trocknet sie ab, bestreicht sie mit Provenceröl, brät sie und übergießt sie dann, nachdem man sie in ein Fäßchen oder einen Steintopf tat, mit erkalteter, abgekochter Marinade von zwei Liter Weinessig, einem Liter Wasser, einem Löffel Salz, Lorbeerblättern und Gewürz. Um kalt verwendet zu werden, verwahrt man sie im Steintopf an kühlem Ort."