Kunstmuseum Stuttgart zeigt Michel Majerus

Michel Majerus wurde nur 35 Jahre alt, und doch hinterlässt er ein ebenso vielseitiges wie umfangreiches Werk, das eine ganze Generation zeitgenössischer Künstler beeinflusste. Majerus studierte ab 1986 bei K.R.H. Sonderborg und Joseph Kosuth an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste in Stuttgart. Bis zu seinem Tod im Jahr 2002 nahm er an zahlreichen Ausstellungen im In- und Ausland teil und ist heute weltweit in Museen und Privatsammlungen vertreten.

In seinen Arbeiten zitiert Michel Majerus Comics, Medien, Werbung und immer wieder auch das kunsthistorische Repertoire von Minimal Art und Pop Art. Wegen der großen Formate seiner Arbeiten und ihres installativen Charakters konnten bislang nur wenige Museen sein Werk in allen Facetten zeigen. Diese Lücke schließt das Kunstmuseum Stuttgart vom 26. November 2011 bis 9. April 2012 mit einer über hundert Gemälde und Installationen umfassenden Werkschau.

Da die großzügig geschnittenen Räume im Erd- und Untergeschoss des Kunstmuseum Stuttgart mit ihren hohen und langen Wänden den raumgreifenden Arbeiten von Michel Majerus in besonderer Weise entgegenkommen, wird die Sonderausstellung erstmals nicht im Kubus präsentiert. Auf über 2.500 Quadratmetern ermöglicht der Wechsel von verdichteten und sich öffnenden Bereichen überraschende Aus- und Durchblicke, die Majerus" Umgang mit Raum – ein zentrales Thema seines künstlerischen Schaffens - nochmals reflektieren.

Typisch für den 1967 geborenen Künstler sind Arbeiten, die wie die aus Holzboxen bestehende Installation "A 1-7, T 1-7, H 1-7, M 1-7" (1996) den Raum auf ungewohnte Weise besetzen, oder gar einen eigenen Raum schaffen. So haben sich die sieben Leinwände der "Sinnmaschine" (1997) aus der Fläche gelöst und bilden eine Kurve, die einen industriell gefertigten Metallboden einfasst. Betritt der Besucher diesen Boden und geht an den Bildern entlang, wird er Teil der Arbeit. Hier zeigt sich, dass Majerus’ Werk eine besondere Art der Rezeption fordert: Anstatt sich in Ruhe in ein Kunstwerk zu versenken, bewegt sich der Blick des Betrachters wie ein Ball, der dynamisch durch den Raum springt und gegen Bildflächen prallt, nur um sofort wieder eine neue Richtung einzuschlagen.

Die Arbeiten werden so vor allem in Ausschnitten wahrgenommen, da das große Format und die Bewegung den Blick auf das Ganze verwehren. Auch die über hundert Meter lange Wandarbeit mit dem ohne Leerzeichen gesetzten Schriftzug "One by which you go in, one by which you go out" lässt sich erst beim Abschreiten des Untergeschosses entziffern.

Um seine Ideen umzusetzen, nutzt Majerus verschiedenste Techniken. Neben der klassischen Malerei auf Leinwand entwirft er Arbeiten auf Aluminium, PVC, Holz sowie großformatige Wandgemälde. Siebdruck und Computerprint reflektieren für Majerus die Funktionsweise einer totalen Bildermedienwelt. In der großformatigen Neonarbeit "Olympia 2050" (2001) blinken Buchstaben und Linien in wechselnden Konstellationen, so dass sich immer neue Worte und Zusammenhänge ergeben.

Besonders komplex ist die Raumgestaltung bei der letzten Installation, die der bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommene Künstler 2002 vollendet. Durch einen kleinen Eingang betritt der Besucher das Werk "Controlling the Moonlight Maze" und befindet sich sofort inmitten eines Werkes aus vier großformatigen Bildern. Anstatt also - wie in der klassischen Malerei - vor einer Bildfläche zu stehen, die einen imaginären Raum entwirft, definiert der aus Stahlträgern gebaute quadratische Kubus hier einen konkreten Raum. Jede der vier Bildflächen ist in einer anderen Technik ausgeführt und entwickelt ihr eigenes Verhältnis zu dieser quadratischen Struktur. Die "Raum-in-Raum3 Verschachtelung" erzeugt anfänglich ein Gefühl der Überwältigung inmitten der großformatigen Bilder und mündet in ein komplexes Raumerlebnis.

In der Videoarbeit "michel majerus" aus dem Jahr 2000 flimmert der Namenszug des Künstlers in immer neuen Konstellationen über die Bildschirme. Majerus greift einzelne Standbilder aus dem Film heraus ("mm1" und "mm3", 2001) und verarbeitet sie im Medium Malerei. Das, was sich zuvor nacheinander entwickelt hat, ist nun auf nebeneinander platzierten Leinwänden festgehalten. Der Namenszug des Künstlers zersplittert nach und nach, und es entsteht ein zunehmend abstraktes Bild. Die kurz vor seinem Tod entstandene Werkserie ist ein Beispiel für seine Arbeitsweise, Motive in immer neuen Variationen zu präsentieren. Majerus selbst verglich diese Methode mit der Samplingtechnik der Techno-Musik: "Am Techno interessieren mich die erweiterten Produktionsmöglichkeiten im dem Sinne, dass alle möglichen Einflüsse dafür verwendbar sind und darin verschmolzen werden können."

Entsprechend vielfältig sind auch die Quellen, aus denen der Künstler schöpft. So integriert Michel Majerus kunsthistorische Zitate in sein OEuvre. Die Stuttgarter Ausstellung macht dies exemplarisch an der Rezeption von Frank Stellas Bildern deutlich. Die Werkauswahl belegt, wie vielfältig Majerus die Arbeiten des älteren Künstlers verarbeitet. Bei einigen Werken wird aus einem Fragment einer Stella-Arbeit das alleinige Bildthema, bei anderen Arbeiten finden sich Comic-Charaktere gleichberechtigt neben Motiven von Frank Stella und Figuren aus Jean-Michel Basquiats Bildsprache.

Besonders häufig greift Majerus – wie etwa in der sieben Meter breiten Arbeit "Gewinn" aus dem Jahr 2000 – Elemente aus Computerspielen, Comics und Fernsehserien auf. Mit diesen Phänomenen der Alltagskultur beschäftigt er sich auch während eines USA-Aufenthaltes 2000/2001 im Rahmen eines Stipendiums. In Los Angeles lässt er sich unter anderem von den großen Billboard-Anzeigen inspirieren. Das Abbild einer riesigen Videokassette in "XXX" (2001) erinnert an die Pop Art mit ihrem Interesse an Oberflächen und aus der Alltagswelt entnommenen Motiven. Seinen Blick richtete Majerus aber auch auf Themen wie Tod und - medial verbreitete - Katastrophen und knüpft damit an Andy Warhol an: der Totenschädel in der Arbeit "MoM Block Nr. 80" (2000) und der Autounfall in "3mmT-2" aktualisieren Warhols "Car Crash"- und "Skull"-Serien.

Für viele seiner Werke nutzt Majerus den Computer als Entwurfsinstrument: "Kein anderes Medium schafft es besser, meinen ganzen Müll so zu sortieren, damit ich am Ende eine Entscheidung treffen kann." In der Arbeit "Fries" (2001) thematisiert der Künstler diese Technik. Neben dem Logo einer amerikanischen Fast-Food-Kette und einem Schriftband, das auf das entspannte Lebensgefühl an der Westküste der USA verweist, setzt er unten rechts ein auch damals schon etwas veraltetes Papierkorb-"Ikon", das auf der Oberfläche von Computern den Ort anzeigt, an den der Nutzer Bilder oder Dokumente verschieben kann, die nicht mehr gebraucht werden. Hat der Betrachter dieses Motiv erkannt, ändert sich die Lesart des Werkes: Die mit Acrylfarbe bemalte Leinwand verwandelt sich in eine Computeroberfläche, auf der alle Elemente geändert, verschoben, verfremdet oder gelöscht werden können. Eine hierarchische Ordnung von Motiven spielt hier keine Rolle mehr - die in riesigen Datenspeichern gelagerten Elemente können immer wieder neu kombiniert werden.

Michel Majerus nutzte die technische und kulturelle Entwicklung an der Schwelle vom 20. zum 21. Jahrhundert sehr bewusst: "Ich genieße es, in den 90ern Kunst zu machen, weil es jetzt erst möglich ist, zum ersten Mal eine Arbeit zu verfolgen, die sich nicht zwanghaft zu lange auf einer Stelle aufhalten muss."

Michel Majerus
26. November 2011 bis 9. April 2012