Kunst und Wahn in Wien um 1900

Um 1900 war Wien in der medizinischen Erforschung psychischer Erkrankungen europaweit führend – heute verbindet man damit vor allem Sigmund Freud und seine epochalen Schriften zur Psychoanalyse. Doch Freuds revolutionäre Sichtweise der menschlichen Psyche war nur ein Ansatz unter vielen, zahlreiche Wiener Künstler und Architekten beschäftigten sich unabhängig von Freud in ihrem Werk mit "Geisteskrankheit" und Psychiatrie.

Ob es um die Planung von Nervenheilanstalten oder das Porträtieren von PatientInnen ging: Es scheint, als hätten das "Verrückte" und der "Wahnsinn" eine geradezu magische Anziehungskraft besessen. Dieses Interesse wurde von dem verstörenden Gefühl des großstädtischen Bürgertums begleitet, in "nervösen" Zeiten zu leben. Ängste vor psychischen Erkrankungen gingen Hand in Hand mit der Furcht vor der modernen Stadt mit ihren neuen Technologien und Arbeitsbedingungen sowie der Beschleunigung des Lebens. Diese bewusste Erfahrung von Modernität gab der Erforschung des "Wahnsinns" einen zusätzlichen Impuls.

Die Ausstellung "Madness & Modernity. Kunst und Wahn in Wien um 1900" wurde von den Kunsthistorikerinnen Gemma Blackshaw und Leslie Topp für die Wellcome Collection in London konzipiert – ein Museum, das Medizingeschichte in einen breiteren kulturellen Kontext einbettet. Die erfolgreiche Präsentation wird inklusive der Ausstellungsgestaltung (Architekt: Calum Storrie, Grafik: Lucienne Roberts) übernommen. Als deklarierter und mitunter auch kontroversieller Blick von Außen auf ein spezifisches Phänomen der Wiener Kultur beleuchtet "Madness & Modernity" die Beziehungen zwischen Psychiatrie und bildender Kunst, Architektur und Design und zeigt zugleich, wie stark die Moderne unsere Einstellung gegenüber psychischen Erkrankungen geprägt hat.

Die Ausstellung gliedert sich in sechs Abschnitte. Als Einführung in das Thema werden Aspekte des Wahns im Wien des 18. Jahrhunderts beleuchtet, als Franz Xaver Messerschmidt seine berühmten "Charakterköpfe" schuf. Um 1900 wurden sie wiederentdeckt und als Ausdruck seines "schauerlichen Wahnlebens" angesehen. 1784 wurde unter Kaiser Joseph II. im Wiener Allgemeinen Krankenhaus der "Narrenturm" zur besseren Unterbringung "gefährlicher Irrer" errichtet. Im Lauf des 19. Jahrhunderts wandelten sich die Ansichten über die adäquate Unterbringung psychisch Kranker, so dass hundert Jahre später Einrichtungen wie der "Narrenturm" eine sowohl faszinierende als auch abstoßende Wirkung ausübten.

Im folgenden Kapitel geht es um das moderne psychiatrische Krankenhaus: Im Jahr 1907 wurden die Nieder-Österreichischen Landes-Heil- und Pflegeanstalten für Geistes- und Nervenkranke – Am Steinhof eröffnet, damals das größte und modernste psychiatrische Krankenhaus Europas. Der Gesamtplan stammte von Otto Wagner, der am höchsten Punkt des Areals die berühmte Kirche St. Leopold errichtete. Mit seiner rationalen Anlage erweckte das psychiatrische Krankenhaus den Anschein idealer Urbanität. Für den Kritiker Ludwig Hevesi schimmerte "auf dem langen Hügelrücken [...] in der hellen Sommersonne eine weiße Stadt".

Der dritte Abschnitt stellt unterschiedliche therapeutische Ansätze vor, die auch für leichtere Fälle relevant waren: Denn um 1900 hatte die wohlhabende Wiener Gesellschaft das Gefühl, in einem "nervösen" Zeitalter zu leben, Psychiater verschrieben Erholungsaufenthalte in Nervenheilanstalten außerhalb der Stadt. Josef Hoffmann gestaltete mit dem 1904/05 errichteten Sanatorium Purkersdorf einen idealen Rückzugsort zur Entspannung der Großstädter (und ein bedeutendes Gesamtkunstwerk im Sinne der Wiener Werkstätte).

Zur selben Zeit vollzog Sigmund Freud einen radikalen Bruch mit der gängigen Lehrmeinung, indem er unbewusste und verdrängte Wünsche, Träume und Gedanken zum Ausgangspunkt seiner Therapie machte. Sie fand auf der berühmten Couch und in einem Ambiente statt, das von der klinischen Hygiene des Purkersdorfer Sanatoriums weit entfernt war. Als ein absolutes Highlight der Ausstellung ist ein Teppich mit zwei Kissen von Freuds Couch erstmals wieder in Wien zu sehen, Leihgeber ist das Sigmund Freud Museum in London. Auch ein seltenes Gerät zur Bewegungstherapie, wie sie im Sanatorium Purkersdorf praktiziert wurde, wird gezeigt.

Im vierten Kapitel wird das Thema "Kunst und Wahn" am Beispiel Egon Schieles beleuchtet. Dessen Selbstporträts zeugen von einer intensiven Auseinandersetzung mit dem eigenen Körper. Eine Ursache für die spezifische Form der Körperdarstellung wird häufig in Schieles traumatischen Jugenderfahrungen gesehen. Von Bedeutung waren aber wohl auch Fotografien von "Geisteskranken". Sie dienten nicht nur der Forschung, sondern auch als Quellenmaterial für Künstler auf der Suche nach neuen Darstellungsmöglichkeiten des menschlichen Körpers.

Im fünften Abschnitt präsentieren die Kuratorinnen ihre zentrale These zum Einfluss des "Wahnsinns" auf die Porträtkunst um 1900. Mithilfe von Porträts konnten junge Künstler an Aufträge gelangen und den Markt auf ihre Arbeit vorbereiten. Solche Arbeiten waren also ein Mittel, das strategisch eingesetzt werden konnte, um auf sich aufmerksam zu machen. Der Skandal, den etwa Oskar Kokoschkas Porträts entfachten, machte sich nicht zuletzt an dem "Krankhaften" fest, das konservative Kritiker in diesen Bildnissen zu entdecken glaubten. Dabei wurde die Darstellung von Personen als "krank" oder gar "verrückt" offenbar ganz bewusst eingesetzt, die Aufregung war inszeniert.

Im sechsten Abschnitt stehen künstlerische Arbeiten von zwei Insassen psychiatrischer Anstalten im Fokus. Aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg sind nur wenige Werke von Patientinnen und Patienten erhalten, zum Beispiel von Josef Karl Rädler und einer gewissen "Frau St.", die mit Leihgaben aus Privatsammlungen sowie aus der Sammlung Prinzhorn vertreten sind. Im Gegensatz zu den modernen Künstlern, die gerne als Exzentriker wahrgenommen wurden und gerade dadurch einen Markt für ihre Werke schufen, blieben die PatientInnen mit ihrer Kunst in der abgeschlossenen Welt der Anstalt isoliert. Zu einem intensiven Kontakt zwischen diesen unterschiedlichen künstlerischen Sichtweisen kam es damals nicht.

Katalog: Madness & Modernity. Kunst und Wahn in Wien um 1900. Hg. vonGemma Blackshaw und Leslie Topp. Brandstätter-Verlag, 2009, ca. 170 Seiten

Madness & Modernity
Kunst und Wahn in Wien um 1900
21. Jänner bis 2. Mai 2010