Kunst am Sonntag: Der Maler grausig-eleganter Gebilde

André Breton bezeichnete seinen Freund, den Künstler Yves Tanguy, als "Maler grausig-eleganter Gebilde in der Luft, in den Tiefen der Erde und der Meere". Das in Tanguys surrealistischer Frühphase entstandene Werk "Titre inconnu", das sich im Besitz der Hilti Art Foundation befindet, weist rätselhaft unvertraute Gestalten auf, die gleichermassen am Beginn einer naturgeschichtlichen Schöpfung wie am Ende einer zivilisationsgeschichtlichen Katastrophe stehen könnten. Es sind zwar greifbar plastische, ebenso anorganisch wie organisch anmutende, letztlich aber unidentifizierbare Gestalten, die in den Tiefen der Meere, den Weiten der Wüsten oder den Unendlichkeiten des Alls zu existieren scheinen.

Die vier grössten von ihnen gruppieren sich, von unsichtbarer Quelle hell beleuchtet und daher Schlagschatten werfend, um ein fiedrig zartes Nebelgebilde, das, wie sie selbst, über dunklem Grund steht, auf dessen reliefhafter Oberfläche fahlweisse Horizontalstreifen erscheinen, die sich schliesslich in einem nachtschwarzen, unermesslich tiefen Raum verlieren. Der Betrachter blickt auf eine befremdlich menschenferne, gleichwohl irritierend real wirkende Welt im Prozess des Werdens oder Vergehens unter den Bedingungen des uranfänglichen Gegensatzes von Licht und Finsternis. Vergleichbare Inszenierungen sind nicht nur bei Max Ernst (z. B. "Der Nordpol", 1922), sondern auch schon in den Werken von Hieronymus Bosch und, wie Reinhold Hohl aufgezeigt hat, anderen niederländischen Meistern des frühen 16. Jahrhunderts nachweisbar.

Der Schweizer Psychiater C. G. Jung, der das Gemälde bereits im Jahr seiner Entstehung erworben hatte, widmete ihm in der 1958 erschienenen Publikation "Ein moderner Mythus – Von Dingen, die am Himmel gesehen werden" besondere Aufmerksamkeit. Er brachte es darin nicht nur mit den Begriffen von Öde, Kälte und Lebensferne sowie mit kosmischer Unmenschlichkeit und endloser Verlassenheit in Verbindung, sondern sah in ihm auch ein Beispiel dafür, dass zeitgenössische Kunst durch den Verlust von Schönheit und Sinn den Menschen auf sich selbst als betrachtendes Subjekt zurückwerfe. Das aber kann, wenn, wie im Falle von "Titre inconn", kein Sinnangebot gemacht wird, zu Assoziationen und Reaktionen führen, die erhellende Auskunft über die dunkle Welt des Unbewussten geben – ganz im Sinne des Surrealismus.