Kulturtechnik Lesen

Lesen ist nicht sehr beliebt. Deshalb werden Lesenächte veranstaltet, Lesewochen bei Buchmessen. Lesenlernen und Leseübungen sind bei vielen verpönt. Kinder, Jugendliche und Schüler klagen über die Zumutung, schwer arbeiten zu sollen. Lesen ist Arbeit. Solange man nicht lesen kann, macht es keine Freude. Ist es kein Spass. In der Spass- und Opferkultur völlig inakzeptabel.

Trotz vieler Studien und Leseprogramme wächst der Anteil der funktionalen Analfabeten und der Leseverweigerer. Zu leicht gibt man sich vielerorts schon zufrieden, wenn die Jungen wenigstens zu entziffern lernen oder soweit trainierbar sind, dass sie gewisse Minima des Alltags erfüllen können. Die Computerwelt und Softwareindustrie kommt der Leseverweigerung mit immer neuen Erleichterungen entgegen.

Bei Lehrerseminaren werde ich oft mit der tiefen Frustration vieler Pädagogen konfrontiert, die der Leseverweigerung schier machtlos gegenüberstehen. Man kann nicht allen Einzelcoaches zur Seite stellen.

Sogar für das gebildete Publikum gibt es immer weniger Lesungen, wo das Wort genügt. Immer öfter wird Musik als Untermalung eingesetzt, als ob das blosse Wort zu wenig, zu gering wäre, als ob die Stimme weder den Raum zu füllen vermöchte, noch den Hörer alleine erreichte. Ganz wenige Manager vermögen frei zu sprechen, die meisten verschanzen sich inter dem Laptop und ihrer Powerpoint-Präsentation. Niemand nimmt anscheinend Anstoss, dass ein reduziertes Schlagzeilendeutsch runtergelesen wird. Die Unkultur des "AB" hat Einzug gehalten. Man geht zum Abtanzen und gibt sich höchstens ein Anlesen oder Ablesen. Lesen als solitäre Arbeit, als Vertiefung, als innere Reise, existiert nur noch für eine kleine Minderheit.

Ich kenne keine Patentrezepte, wie man den Desinteressierten, Ungebildeten, Bildungsverweigerern die Kulturtechnik lesen vermitteln könnte. Die herkömmlichen Methoden taugen offensichtlich nicht mehr. Ich vermute, es hat auch mit einer gewissen Wertorientierung zu tun. Mit der Auffassung von Aufwand und Ertrag, Arbeit, Leistung und Erfüllung. Würde für Denken (Lesen ohne Denken ist kein Lesen!) soviel Energie aufgewendet wie für Sport, wir hätten eine völlig andere Kultur.

Denn es bleibt ja nicht beim Lesen. Ist einmal eine hohe Lesefähigkeit erreicht, wirkt sich diese umfassend auf das ganze Denkvermögen aus, auf die Wahrnehmung, die Reizverarbeitung und die Fähigkeiten der Vorstellung, Imagination, Vergegenwärtigung und Wiederbelebung.

Früher haben Kirchenleute vor dem Lesen gewarnt, weil ihnen die Verführung zu eigenen Vorstellungen, ja gar eigenem Denken höchst gefährlich schien. Wie beim Militär. Die Entwicklung der Werktätigen in der harten Geschichte des Kapitalismus zeigt auf, wie lange man versucht hat, die Bildung der Ungebildeten zu verhindern, weil Gebildete sich nicht so leicht ausbeuten lassen.

Heute ist das etwas anders. Aber die frühe Furcht vor Denkenden ist auch in sogenannt modernen Betrieben noch daheim. Wer denkt, stellt Fragen. Bei Kindern nimmt man das noch hin. Bei Arbeitenden nicht so gern.

Die audiovisuellen Medien versorgen die Mehrheiten mit Programmen, die möglichst totale Welten liefern, die den Wunsch nach eigener zusätzlicher Arbeit nicht fördern: weshalb soll man lesen, wenn alles in schönen tönenden, bewegten Bildern einem geliefert wird?

Der Hauptanreiz zum Lesen könnte vielleicht darin liegen, dass man aufzeigt, wie jeder selber eigene Welten kreieren kann, wenn er oder sie liest. Man bleibt nicht beim gelesenen Stoff, sondern arbeitet mit ihm.

In einem Leseseminar machte ich einmal so eine Übung. Die Teilnehmer lasen einen literarischen Text. Dann berichteten sie von ihren Eindrücken, davon, welche Bilder sie sich gemacht hatten. Wir verglichen die Berichte mit einer Textillustration bzw. einer Visualisierung des gelesenen Textes. Dort hatte ein Autor als Illustrator die Fantasietätigkeit dem Leser abgenommen und die Bilder geliefert. Der Vergleich zeigte die hohe Unterschiedlichkeit der einzelnen Bilderwelten, die die Leser evoziert hatten, gegenüber der Vorlage.

Mittels einiger Anmerkungen zur Sprachtheorie konnte dargelegt werden, weshalb die Sprache Freiräume schafft, auch wo sie präzise ist. Es liegt in der "Natur" der Begriffe. Einfache Beispiele machten das deutlich: "Er sass am Tisch, nahm sein Kalenderbuch aus der Tasche und suchte die Adresse." Viele Leser sahen Tische, die sich von den andern unterschieden. Die Person, auch wenn sie zuvor näher beschrieben war, sah "eigen" aus, also anders im Vergleich. Alle lasen dieselbe Geschichte und erzeugten Bilder, die oft weder gleich noch ähnlich waren. Und trotzdem hatten alle verstanden. Faszinierend.

Die Bilder zeigen als Abbildungen konkrete Gegenstände oder bestimmte Personen. Die Festlegungen sind rigider. Das kann nützlich und vorteilhaft sein. Aber sich darauf zu beschränken verhindert die Denkarbeit: jedes Wort wird komplex übersetzt, übertragen in Vorstellungsbilder, Töne, ja sogar Gerüche, ganz nach den durch die Sozialisation und Lebenserfahrungen gespeicherten Eindrücken, Erfahrungen, Kenntnissen und Informationen. Je mehr Querverbindungen in Bruchteilen einer Sekunde möglich werden, desto dichter wird das Vorgestellte, das Vergegenwärtigte. So werden Worte lebendig gemacht.

Sobald man das "meistert", ist Lesen keine Mühe, sondern Lust. Es gilt, diesen positiven, erotischen Lustaspekt zu vermitteln. Wie ein Schlüssel zu einem Tor in neue Welten. Wer dort anlangt, bereichert sich jenseits des Profitdenkens: was er gewinnt, ist kein Gewinn auf Kosten anderer. Kein Ressourcenraubbau. Sondern Verdichtung. Der Leser als Aktiver nimmt nicht passiv auf, gibt sich nicht mit den Buchstaben zufrieden. Er entziffert nicht. Er liest nicht ab und an. Er kreiert.

Die Kehrseite wird einigen nicht gefallen, ist aber zu verkraften: das übliche Geschwätz in den Radio- und Fernsehprogrammen wird nicht mehr so häufig blöde hingenommen. Die dünndummen Texte der Kurzdenker in ihrer Kurzsprache oder Newspeak werden mehr und mehr links liegen gelassen. Es steigen die Ansprüche. Es verändern sich die Reaktionen. So, wie sich die Aktionen verändert haben. Es würde weniger Zirkus und Show geben.

Ich bin ins Träumen geraten. So eine Wachheit ist nicht das Interesse der Machthabenden, die Entscheidungen treffen, und die im unverbindlichen Jargon entverantwortlicht "Entscheidungsträger" genannt werden. Die Tragen etwas, das sie nicht wirklich haben und üben. Aber wer da richtig läse und fragte, stiess neben seinen geöffneten Toren zu inneren Welten auf ganz konkret verschlossene.

Ich kann mir vorstellen, dass viele Psychologen im Dienste der Arbeitgeber spitzfindig herausfinden, ob jemand eindimensional, also für die Wirtschaft und Politik "brauchbar" seine Kulturtechniken einsetzt oder vieldimensional, "eigen", komplex. Letzterer wäre ein Störfall. Der wird jetzt zwar nicht eliminiert, aber sicher nicht willkommen geheissen und gefördert. Deshalb ist von den angesagten Bildungsreformen nicht viel zu erwarten. Ausser, dass die Wirtschaft die Ausrichtung der Eindimensionalen nach gewissen PISA-Vorgaben steigert.

Wieviel Zeit nehmen sich denn die gestressten Manager und Politiker für Lektüre? Was lesen sie und WIE lesen sie? Zur Erholung durch Ablenkung und Unterhaltung? Schonkost? Weshalb pflegen die allermeisten unserer Massenmedien ein extrem reduziertes Basisdeutsch, wenn so viele der "gehobenen Bildungssschicht" so kultiviert und belesen sind? Wie halten die das aus?