Kritischer Blick auf kubanische Geschichte und Gegenwart: Tomás Gutiérrez Alea

DIE Galionsfigur des kubanischen Kinos wurde Tomás Gutiérrez Alea in den 1960er Jahren mit Filmen wie "Der Tod eines Bürokraten" oder "Erinnerungen an die Unterentwicklung". Mit bissigem Witz attackierte er Bürokratie und Kleinbürgertum, übte in seinem Spätwerk "Erdbeer und Schokolade" dann aber auch Kritik an der Intoleranz von Castros Kuba. Das St. Galler Kinok widmet dem 1996 verstorbenen Regisseur im Januar und Februar eine Retrospektive.

Als Sohn wohlhabender Eltern studierte der 1928 geborene Tomás Gutiérrez Alea zunächst in Havanna Jus, entdeckte aber schon in dieser Zeit seine Leidenschaft nicht nur für den Marxismus, sondern auch fürs Kino. Nach Abschluss seines Studiums ging er nach Rom, wo er ein Regie-Studium absolvierte. Die Erfahrungen mit dem italienischen Neorealismus, die er dabei sammelte, versuchte er nach seiner Rückkehr nach Kuba im Jahre 1953 auf seine eigene Filmarbeit zu übertragen.

Im 20-minütigen Dokumentarfilm "El mégano" ("Das Köhlerdorf", 1955), den Alea gemeinsam mit Julio García Espinosa drehte, schilderte er das harte Leben von Köhlern und Holzarbeitern in den Sümpfen südlich von Havanna. Von der Batista-Diktatur wurde dieser Film sofort verboten und einige Mitarbeiter wurden verhaftet.

Zusammen mit anderen Filmemachern wie Espinosa engagierte Alea sich an der revolutionären Bewegung Fidel Castros und wurde nach dessen Machtübernahme (1958) Gründungsmitglied des Kubanischen Instituts für Filmkunst und Filmindustrie (ICAIC). In der Folge widmete sich die kubanische Filmproduktion den dringlichsten Problemen der gesellschaftlichen Umwandlung und Alea drehte mit "Esta tierra nuestra" ("Das ist unser Land", 1959) einen kurzen Dokumentarfilm über die Agrarreform. In dem semidokumentarischen, deutlich vom italienischen Neorealismus beeinflussten Episodenfilm "Historias de la revolución" ("Geschichten der Revolution", 1960) schilderte er anschließend die Ereignisse des Kampfes gegen die Batista-Diktatur um dann mit "Las doce sillas" ("Die zwölf Stühle", 1962) eine bissige Satire auf die Bourgeoisie folgen zu lassen.

An diesen Film knüpfte Alea mit seinem ersten internationalen Erfolg "La muerte de un burócrata" ("Der Tod eines Bürokraten", 1966) an. In der Geschichte um einen verstorbenen Beamten, der exhumiert werden muss, weil die Witwe ohne dessen Arbeitsausweis, der mit dem Toten begraben wurde, keine Rente erhält, rechnet Alea nicht nur bitterböse mit der Bürokratie ab, sondern erweist in surrealistischen Traumsequenzen auch Luis Bunuel und in Slapstickeinlagen wie einer Kranzschlacht den großen Filmkomikern wie Laurel und Hardy oder Buster Keaton seine Reverenz.

Aleas Gespür für filmische Innovation, aber auch sein genauer Blick für gesellschaftliche Verhältnisse kennzeichnet auch "Memorias del subdesarrollo" ("Erinnerungen an die Unterentwicklung", 1968), der als sein bedeutendster Film gilt. In einer Mischung aus Spiel- und Dokumentarfilmszenen erzählt Alea von einem 40-jährigen bürgerlichen Intellektuellen, der nach der Revolution im Gegensatz zu seiner Familie Kuba nicht verlässt und als Rentner auf Staatskosten lebt. Auf Streifzügen durch Havanna schwelgt er einerseits in Erinnerungen, wird sich aber auch der Veränderungen des postrevolutionären Kubas bewusst, die ihn zunehmend verunsichern.

Während Alea in der Folge mit historischen Filmen wie "Una pelea cubana contra los demonios" ("Eine kubanische Schlacht gegen die Dämonen", 1971) und dem im 18. Jahrhundert spielenden "La última cena" ("Das letzte Abendmahl", 1976), in dem er von einem Plantagenbesitzer erzählt, der beim Versuch seine Sklaven menschlich zu behandeln scheitert, wenig Erfolg hatte, fand die kritische Auseinandersetzung mit dem kubanischen "Machismo" in "Hasta cierto punto" ("Bis zu einem gewissen Punkt", 1983) wieder größere Beachtung.

Der größte Publikumserfolg gelang dem Altmeister des kubanischen Kinos aber 1993 mit "Fresa y chocolate" ("Erdbeer und Schokolade"), der nicht nur bei der Berlinale einen Silbernen Bären, sondern auch eine Oscar-Nominierung erhielt. Weit weg von der filmischen Innovation der Filme der 1960er und dem Hohelied auf die Revolution ist Alea bei dieser einfühlsam erzählten Geschichte um einen systemkritischen Homosexuellen, der versucht einen linientreuen Studenten zu verführen. An die Stelle des politischen Kinos rückt ein "Kino der Gefühle", in dem ebenso bewegend wie unterhaltsam mangelnde Toleranz im Kuba Castros kritisiert wird. Und auch in seinem letzten Film "Guantanamera" (1995) blickte Alea, der am 16. April 1996 nach langer Krebskrankheit starb, nochmals auf die aktuellen Schwierigkeiten des kubanischen Alltags und übte Kritik an Mangelwirtschaft und Einschränkung der persönlichen Freiheit.

Trailer zu "Memorias del subdesarrollo"