Kriegsbeginn

"Vor 100 Jahren" ist jetzt viel zu lesen und zu sehen: zahllose Fest- und Gedenkveranstaltungen, Dokumentationen und Ausstellungen, ganz zu schweigen von einer Flut von Büchern zum Thema des Beginns des ersten wirklich großen, modernen Krieges, des Ersten Weltkriegs. Lange Jahre hat Europa nach seiner blutigen Geschichte "Frieden" erlebt.

Es ist bezeichnend, dass die Störung dieses Friedensprogramms am Balkan erfolgt und im europäischen Raum Russlands: die Kriege in Exjugoslawien, in Georgien und der Ukraine, wo letzterer noch anhält bzw. sich auswächst, beweisen die Fragilität der Devise „Nie wieder Krieg“, an welche die Realpolitiker nie glaubten, vor allem nicht, wenn er woanders stattfand bzw. wenn sie sich kriegerisch außerhalb engagierten.

In Sarajewo wurde ein Denkmal für den Attentäter von 1914 aufgestellt. Es ist leichter, an diese für die Serben ruhmreiche Tat zu erinnern, als an die nur wenige Jahre zurückliegenden Kriegsverbrechen, den eigenen Bürgerkrieg gegen die eigenen Leute. Russland zeigt Schwäche und eine Zukunftsangst, die es meint mit alten Mitteln, wie ehedem, bewältigen zu können, weshalb es sich militärisch stark gibt.

In den Deutungen, Schuldzuweisungen und Aufrechnungen zeigen sich Unterschiede, die zwar nicht mehr so extrem voneinander abweichen, wie noch vor Jahren, aber immer noch in vielen Fällen alten Mustern folgen, die die Sieger als „wahre“ Autoren der Historiographien vorgaben und festsetzten. Langsam nur sickert die Kenntnis von der Komplexität der Schuldfrage bzw. der Kriegsinteressen und des Kriegswillens der anderen Hauptbeteiligten neben Deutschland und Österreich-Ungarn, England, Frankreich und Russland, durch. Immerhin wagt sich das öffentliche Österreich neben den gewohnten, ritualisierten Gedenkveranstaltungen zu einer Einladung des Historikers Christopher Clark als Eröffnungsfestredner der Salzburger Festspiele, ein Umstand, der vor Jahren höchstwahrscheinlich unmöglich gewesen wäre.

Die Art, wie also des Ersten Weltkriegs gedacht wird, macht deutlich, wie schwierig einerseits der Umgang mit Geschichte ist, wie wenig andererseits aus ihr gelernt wurde oder wird, was sich nicht zuletzt in den Auseinandersetzungen mit dem Zweiten Weltkrieg zeigt. Der vielbeschworene Friede ist eher eine Befriedung denn festern Kern europäischer Politik, die Ressentiments sitzen tief wie die Traumata, das Friedensprojekt eines vereinten Europa wird heute ernstlich in Frage gestellt. Zu oft werden bei passender Gelegenheit die Schubladen der alten Feindbilder geöffnet, um gegenwärtiges politisches Versagen zu kaschieren oder simplifiziert zu erklären.

Das resultiert nicht einfach aus böser Absicht oder bornierter Kurzsichtigkeit einzelner europäischer Staaten, sondern vielfach aus der Erfüllung der politischen Rolle, die Europa als „Verbündeter“ Amerikas erfüllt. Doch dieser Aspekt ist in einer Weise tabuisiert, der eine Emanzipation Europas schier verunmöglicht. Die Schwäche Europas, seine Unentschlossenheit eigenständiger (Außen)Politik, indiziert das Abhängigkeitsverhältnis vom Großen Bruder.

Dass dieses Abhängigkeitsverhältnis nicht gänzlich zur Zufriedenheit der Amerikaner garantiert ist, beweisen die Ausspähung und Kontrolle des Masters seiner Verbündeten, denen er nicht traut. Ein Friede sähe anders aus.