5. November 2020 - 11:35 / Felix Kalaivanan / Film 

Im US-amerikanischen Bundesstaat Pennsylvania, nahe der Ostküste und geprägt von Stahlindustrie, Bergbau und Kleinstädten führt die 17-jährige Autumn (Sidney Flanigan) ein scheinbar normales Teenager-Leben. Sie arbeitet nach der Schule in örtlichen Supermarkt an der Kasse, auch der Sexismus am Arbeitsplatz scheint eine Normalität darzustellen: Beim Übergeben der Tageslosung durch eine Aussparung in der Wand, welche den Mitarbeiterbereich vom Büro des Vorgesetzten trennt, küsst jener die Hände vorrangig jungen Frauen überschwänglich; eine Übergriffigkeit, welche die weibliche Belegschaft über sich ergehen lässt.

Nachdem Autumns Schwangerschaftstest positiv ausfällt, greift sie zur Nadel – und sticht sich selbst ein Piercing. Ihre Cousine und Arbeitskollegin Skylar (Talia Ryder) erfährt von der ungewollten Schwangerschaft und gemeinsam entschließen sich die beiden, eine Tagesreise ins liberale New York anzutreten, sodass Autumn dort unter dem Radar der heimatlichen Erwachsenenwelt einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen kann.

Lebensrealität amerikanischer Jugendlicher

Bereits in ihrem ersten Kurzfilm "Forever's gonna start tonight" aus dem Jahr 2011 nahm sich Regisseurin Eliza Hittman der Lebensrealität amerikanischer Jugendlicher an. Ihr queeres Langfilmdrama "Beach Rats" erntete internationale Anerkennung und den Regiepreis beim Sundance Film Festival 2017. Später drehte sie auch Serien wie "High Maintenance" und "13 Reasons Why".

Die Erzählweise erinnert in ihrer stoischen Folgerichtigkeit fern vom Mantra des "Planting and Payoff" der Hollywooddramaturgie an die Filme von Jean-Pierre und Luc Dardenne. Wie bei den belgischen Regie-Brüdern bleibt die Kamera stets nah an der Protagonistin, sodass der Handlungsverlauf sich in kleinen Regungen und Momenten entblättern kann, wie nebenbei erzählt einer schlüssigen Struktur folgend, ohne dass viel erklärt werden muss.
Bestechend ist vor allem das glaubhafte Schauspiel, das Ensemble besteht fast ausschließlich aus Laien, das gilt etwa auch für die Angestellten in den Abtreibungskliniken, die de facto sich selbst spielen.

Auch die Hauptdarstellerin Sidney Flanigan ist keine ausgebildete Schauspielerin. Eliza Hittman erzählt in einem Interview: "Sie ist Musikerin und hat viele DIY-Videos auf Facebook gepostet, da ist sie sehr einsam und grantig und ein sehr einsamer Teenager. So habe ich ihr ein bisschen beim Aufwachsen zusehen können. Ich wollte sie!"
So wird nie direkt über New-York-Reise gesprochen, alles erzählt sich über die Bilderabfolge: Die beiden jungen Frauen lassen bei der Übergabe der Tageslosung einige Scheine verschwinden, recherchieren im Internet nach Reisemöglichkeiten und schon im Greyhound-Bus nach New York City.

Doch die Großstadt, für viele Menschen auf der ganzen Welt und über Jahrzehnte hinweg ein Sehnsuchtsort, entspricht nicht den Postkartenbildern. Von der Skyline kaum etwas zu sehen, stattdessen verweilt die Kamera auf den Augen der Protagonistin. Die Trostlosigkeit der Stadt und die beiden verloren wirkenden Frauen darin erinnerten an den österreichischen Film "Nordrand" von Barbara Albert.
Während des gesamten Filmes öffnen sich die beiden Frauen weder nach außen noch sich gegenseitig, der Film bleibt in der Beobachterposition. Sämtliche Männerfiguren verkommen zu unsympathischen Clichés, aber das scheint den Empfindungen und Erfahrungen der Protagonistin zu entsprechen. Erst im Gespräch mit einer Mitarbeiterin der Abtreibungsklinik erfahren wir mehr über Autumn, auch das scheint ihr unfreiwillig und passiv herauszurutschen. Auf manch eine Frage im klinischen Vorgespräch, welche auf ihre Sexualleben und eventuelle Gewalterfahrungen abzielen, weiß sie nicht sofort eine Antwort.

Der Filmtitel bezieht sich auf die Antwortmöglichkeiten des Aufnahmeformulars der Klinik. Zum Dialog kommt es erst dort, im medizinischen Kontext, welcher noch mal große alternative Erzählungen öffnet, die"Niemals selten manchmal immer" aber bewusst ausspart. Andere Filme würden aus den ganzen möglichen Traumata eine Geschichte zimmern, hier geht es um Selbstbestimmung und die Geschichte liegt in der Verarbeitung.
Auch das Auslassen der Gespräche zwischen den Freundinnen folgt dieser stringenten Logik. Dadurch können die Zuschauer durch die Augen der Protagonistin blicken und sich wie Autumn fragen, was vom amerikanischen Traum denn eigentlich noch übrig ist.
Link zum 16-minütigen Kurzfilm "Forever's Gonna Start Tonight" von Eliza Hittman: https://vimeo.com/115435198



Autumn (Sidney Flanigan) (Still aus 'Niemals selten manchmal immer')
Autumn (Sidney Flanigan) (Still aus 'Niemals selten manchmal immer')
Still aus 'Niemals selten manchmal immer'
Still aus 'Niemals selten manchmal immer'
Still aus 'Niemals selten manchmal immer'
Still aus 'Niemals selten manchmal immer'