Kategorisches Denken

Heuer erhielt Jean-Marie Gustave le Clézio den Literaturnobelpreis. Das Rate- und Wettkarussell vor der Verleihung war heftig; viele setzten diesmal auf einen der verdienten Amerikaner. Der Sprecher des Stockholmer Preiskomitees hatte aber kürzlich sich sehr abschätzig über die us-amerikanische Literatur geäussert. Er schwächte nach einem Entrüstungssturm etwas ab. Aber jetzt zeigt sich: wieder kein Amerikaner dabei. Buchmacher toben. Es geht schliesslich nicht primär um Ruhm, sondern ums Geschäft. Dann kommt erst das symbolische Kapital.

Jenseits der Geschäfts- und Profitinteressen drängt sich die Frage auf, weshalb die Nationalität einer Schriftstellerin oder eines Schriftstellers so bedeutsam ist. Soll sie es sein? Ist Elfriede Jelinek (Preis 2004) repräsentativ für Österreich? Der Türke Orhan Pamuk (Preis 2006) ist so untypisch türkisch, dass eine Mehrheit ihn jagt, schimpft und bedroht; er kann nur mit Leibwächtern leben. Die breite Masse seines Landes, seiner Kultur verachtet ihn, hetzt ihn. Trotzdem ist er Ehrengast bei der Eröffnung der weltgrössten Buchmesse in Frankfurt, wo diesmal die Türkei das Gastland ist. Jene Türkei, die nach wie vor Zensur übt, eine faschistoide Politik führt und Minderheitenrechte nicht gewährt oder anerkennt, foltert und Menschenrechte verletzt.

Nun, ähnlich gebärden sich andere Kulturnationen. Gao Xingjian kann ein Lied davon singen. Er durfte in seiner Heimat aber nicht frei singen. Er wurde zum Franzosen. Aber nicht deshalb hat er 2000 den Literaturnobelpreis erhalten. Der Preis jedoch rangiert für "Frankreich", das jetzt wieder aufatmet und meint, mit der Auszeichnung von Jean-Marie Gustave le Clézio sei bewiesen, dass die französische Kultur doch nicht so darnierder liege, wie derzeit allgemein lamentiert wird.

Ein Nobelpreisträger als Gegenbeweis, als akutes Lebenszeichen! Wie schwach muss eine Kultur sein, wenn sie dessen bedarf? Dabei ist le Clézio in Frankreich selbst zwar gut verlegt, jedoch ein Aussenseiter. Er ist alles andere, als typisch französisch. Erwartet man von Gao Xingjian eine kulturelle Konvertierung ins Französische?

Wenn man keinen Masterplan und keine Verschwörung im Stockholmer Komitee sieht, weil weder die Herren John Updike, Don DeLillo, Thomas Pynchon oder der jetzt so gefeierte, alte Philip Roth "dran kamen", könnte man sich über die autonome, eigene Wahl freuen, die sich diese Einrichtung trotz weltweiter Einflüsterungen leistet. Bemerkenswert. Dass immer noch zusätzlich mit nationalen Etiketten operiert wird, ist peinlich. Doch die Peinlichkeit fällt auf jene, die so stereotyp vereinnahmend vorgehen.

Deshalb sind Forderungen, es müssten gender criteria beachtet werden ebenso dumm, wie jene, dass Vertreterinnen und Vertreter aus anderen Kontinenten stärker beachtet werden. Individualleistungen im Kulturbereich sind trotz gesellschaftlichem Umfeld nicht nach Nationalquoten "gerecht" zu regeln. Es herrscht ein simplifizierendes, pseudogerechtes Ordnungsdenken, oft gerade bei denen, die nach Offenheit rufen. Damit wird auch übersehen, dass es allen Gesellschaften frei steht, "ihre" Literaten zu pflegen und zu preisen. Weshalb auf Stockholm warten? Weil der Nobelpreis immer noch der prestigeträchtigste ist?

Für mich hat nicht "Frankreich" gewonnen, wie bei einem blöden Autorennen oder einem Fussballmatch, wo Fanatiker (Fan ist die Abkürzung von Fanatiker; dieser ist als Eiferer eine unvernünftige Person) Adrenalinausstösse erfahren, sondern ein Autor. Sein Werk ist seines, auch wenn die Länder und Kulturen, in denen er lebt, ihn beeinflusst haben. No na!, möchte man ausrufen. Was denn sonst? Aber jemanden reklamieren und festschreiben wollen, ist nicht nur eine Vereinnahmung, sondern auch eine Vergewaltigung.

Literaten, Künstler generell, wenn sie was taugen, sind nicht eindimensional, sind nicht nur Spiegel des Direkten. Sie leben in verschiedenen Dimensionen, die auch in der eigenen Kultur erfahrbar sind, welche aber den Durchschnittlichen über die Massenmedien und die Massenkonsumkultur verborgen werden (und bleiben), weil die hohe Komplexität auf den "gewöhnlichen" Alltagsverlauf sich störend auswirkte. Dass dennoch in dieser Kulturindustrie Autoren als nicht ganz Vereinnahmte zu arbeiten vermögen, ist ein Widerspruch. Dieses Paradoxon schätze ich persönlich und nicht türkisch, österreichisch, amerikanisch oder französisch.