Jesse Stecklow - Terminal

Das Sammeln, Analysieren und Zirkulieren ökologischer, für das menschliche Auge meist unsichtbarer Daten bildet den Grundstein von Jesse Stecklows künstlerischer Praxis.

Der in Los Angeles lebende Künstler arbeitet mit einem klar definierten Repertoire an Objekten, die zwischen Text, Bild und Sound oszillieren. Seine Skulpturen treten in einen direkten Dialog mit ihrer Umgebung und verschmelzen gleichsam mit ihr.

Dabei geht es Stecklow weniger um das einzelne Objekt an sich, als um unterschiedliche Narrative, die durch ortsbedingte Kontextverschiebungen entstehen. Er bezeichnet seine Objekte als Charaktere, die je nach Situation verschiedene Rollen bekleiden und so in Form divergierender Fassungen multiple Identitäten annehmen.

Sprechen wir heute von "Daten", kommen uns meist nur digitale Datensammlungen in den Sinn. Ein Mythos, mit dem Stecklow bricht, indem er den Begriff wesentlich breiter und elementarer denkt: "[…] Ich fasse Technologie sehr weit. So stellt auch ein Messer eine Art Technologie des Schneidens dar. In diesem Sinne arbeite ich mit einer sehr groß aufgezogenen Idee von Daten, denn mich interessiert nicht nur die Arbeit mit neuen Formen der Informationssammlung, sondern auch die Frage, wie diese Systeme angewandt werden könnten, wenn man sie auf den weiteren Bereich der Materialien und Strukturen zurückverweist. […] Daten können als Sporen eines Pilzes oder als Insekt auftauchen, das in einer Klebefalle gefangen wurde, sie können jede beliebige Form von Material annehmen, die eine Informationsspur hinterlässt, fast wie eine Zeichnung. Es ist mir wichtig, den Begriff der 'Daten' offen zu halten. Er wurde in den Tech-Bereich abgeschoben, und das empfinde ich als einschränkend. Es hat etwas Intimes und Konkretes, sich mit den Bewegungen aerogenen Materials in einem Raum auseinanderzusetzen." (K.R.M. Mooney im Gespräch mit Jesse Stecklow, "Something Adaptable", Mousse, 48, S. 224–230, hier: S. 224.)

Mit der Entwicklung eines "Systems ökologischer Datensammlung", das sich in Form technisch trivialer Arbeiten wie etwa der Verwendung von Fliegen-Köderstreifen (engl. "fly tape") in "Text Trap i" (2016) genauso manifestiert wie in technisch höchst versierten Objekten, wie dem "Air Sampler" (seit 2014), konterkariert Stecklow den vermeintlich objektivierenden digitalen Datenwahn unserer Zeit. Er kreiert einen Kreislauf, in dem die von ihm gesammelten materiellen Daten – genauer gesagt: deren Auswertung – Einfluss auf die weitere Entwicklung seiner Werke haben und somit konzeptueller Anker seiner Praxis sind.

Dieses einem Kreislauf gleichende Verfahren begann Stecklow 2014 mit einer Werkgruppe, die den Titel "Untitled (Air Sampler)" – zu Deutsch: Luftkeimsammler – trägt. Hierbei handelt es sich um eine Methode zur mikrobiologischen Untersuchung von Raumluft. Umgeben von einer polierten Aluminiumschale präsentiert sich der Luftkeimsammler als Skulptur. Über die jeweilige Laufzeit der Ausstellung agiert der "Air Sampler" wie eine Art Wächter und nimmt alle für das menschliche Auge unsichtbaren Änderungen seiner Umgebung wahr – Veränderungen, die insbesondere durch die Betrachter:innen in Gang gesetzt werden, die dabei unbewusst zur weiteren Gestaltung des Objekts beitragen und so zu einem wesentlichen Teil der Arbeit werden. Nach Ablauf der Ausstellung werden die aufgenommenen Daten des Luftkeimsammlers in einem Labor analysiert. Die Ergebnisse bilden wiederum die konzeptuelle Vorlage für die nächste Fassung des "Air Sampler".

In seiner ersten musealen Einzelausstellung in Europa mit dem Titel "Terminal" verwandelt Stecklow den Ausstellungsraum in einen Warteraum und nimmt damit auf die anhaltende Pandemie Bezug. Die immerwährende Wiederholung seines Formenrepertoires, die Darstellung seiner Objekte in unterschiedlichen Fassungen, strukturiert Stecklow mithilfe von Displays, die eine hybride Form zwischen Gepäckband und Esstisch annehmen. Eine Entscheidung, die sich auf die pandemiebedingte Verschiebung zwischen öffentlichen und privaten Räumlichkeiten zurückführen lässt: Während die einst stark bevölkerten Flughafenterminals immer leerer wurden, füllten sich die zuvor vereinsamten Esstische und fungieren nun gleichsam als Büro- und Schultische.

Jesse Stecklow (geb. 1993, Massachusetts, USA) studierte an der University of California, Los Angeles. Zu seinen jüngsten Einzelausstellungen gehören eine Ausstellung im Bainbridge House des Princeton University Art Museum, Ditto bei Sweetwater, Berlin, Staging Grounds bei M+B, Los Angeles, Collection Sites bei Chicken Coop Contemporary in Portland, Oregon, sowie The Multi-Directional Elevator bei Chapter in New York. Seine Arbeiten waren zudem u.a. in Gruppenausstellungen im Kunstverein Braunschweig, bei Fahrenheit in Los Angeles, Podium in Oslo, der Luma Foundation in Zürich zu sehen. 2017 erhielt Stecklow den Louis Comfort Tiffany Foundation Grant. Er lebt und arbeitet in Los Angeles.

Jesse Stecklow - Terminal
20. Mai bis 25. September 2022
Kuratiert von Marianne Dobner