Jeremy Shaws Werk widmet sich der kontinuierlichen Erkundung veränderter Bewusstseinszustände sowie der kulturellen und wissenschaftlichen Praktiken, die transzendentale Erfahrungen erfassen wollen.
Seine Arbeiten bewegen sich oft an der Schnittstelle zwischen Metaphysik und Spiritualität. Sie zeugen von einer Faszination für Phänomene, die sich einer rationalen Erklärung verweigern. Diese reichen von der persönlichen Triebkraft mystischer Erlebnisse bis hin zum Versprechen technologischer Singularität. Dabei interessieren den Künstler die Glaubenssysteme, die sich bei der Ergründung dieser Phänomene entfalten. Shaws Filme, Installationen und Skulpturen konstruieren Welten, in denen er die behauptete Rationalität und Objektivität wissenschaftlicher Forschung mit Fiktionen und Spekulationen sowie unterschiedlichen kulturellen und ästhetischen Referenzen kombiniert, um etwas zu erschaffen, das er als „assisted vérité“ bezeichnet. Unter Rückgriff auf Philosophie, Anthropologie und Soziologie bedient sich seine Praxis der Sprachen alternativer Kulturen, dokumentarischer Bildproduktion, konzeptueller Kunst und Musikvideos. Dabei entstehen alchemistische Werke, die gewissermaßen außerhalb der Zeit existieren.
Die Ausstellung „Towards Logarithmic Delay“ in der Secession in Wien zeigt drei neue skulpturale Arbeiten. Diese befassen sich mit der Vorstellung von Grenzzonen und der Desorientierung, die durch die Auflösung von Raum- und Wahrnehmungsschwellen entsteht. Den Besucher:innen begegnet zunächst „Maximum Horizon“ (2024), ein Triptychon aus Buntglasfenstern, wie sie häufig in Kirchen und anderen Andachtsstätten zu finden sind. Es ist in eine rohe und unbehandelte Trockenbauwand eingelassen – ein Element, das in der Ausstellung immer wiederkehren wird. Die Komposition besteht aus Bleilinien, die sich zur Mitte des mittleren Fensters hin verjüngen, sowie aus Farbfeldern aus mundgeblasenem Glas, die von Gelb über Orange bis hin zu Rot und schließlich Schwarz reichen. Zu sehen ist eine sich rapide nähernde, aber nie erreichte Grenzlinie. Sie erinnert an die den Blick einsaugenden Strudel, die in Science-Fiction-Filmen, Fernsehsendungen und frühen Videospielgrafiken verbreitet sind. Durch die Verbindung von erhabener religiöser Ikonografie und popkulturellen Darstellungen digitaler Horizonte setzt „Maximum Horizon“ das Potenzial moderner technologiegetriebener Glaubenssysteme und ihr Streben nach dem Unendlichen bildlich um.
Im Gegensatz dazu lenkt die Arbeit „The Distance Between Infinite Folds Is Still You“ (2025) die Aufmerksamkeit auf eine räumliche Anomalie, die auf physischer wie begrifflicher Ebene besteht. In diesem Fall handelt es sich um eine filigrane, dreieckige Skulptur aus drei vor der Lampe geblasenen Glasbehältern, die für Forschungszwecke genutzt werden. Als Versuch, eine 4-D-Vorstellung in drei Dimensionen darzustellen, bilden diese miteinander verschweißten „Kleinschen Flaschen” ein Beispiel einer nicht orientierbaren Fläche. Dabei handelt es sich um eine Form, die statt einer Innen- und einer Außenseite eine einzige Seite hat, auf der Normalenvektoren stetig über horizontale und vertikale Ebenen hinweggleiten. Die innere Basis jeder Glaskammer ist mit dem Verdampfungsrückstand von Dimethyltryptamin (DMT) beschichtet, einer Substanz, die Shaw 2004 zur Grundlage einer Videoinstallation machte. DMT ist für seine extreme psychedelische Wirkung bekannt. Die ausgelöste Erfahrung wird mit der eines Quantenraums verglichen, der sich in Richtung einer fast kaleidoskopischen Unendlichkeit entfaltet. Die Präsenz von DMT in der Skulptur unterstreicht die fantastischen Potenziale multiversaler Welten und die Problematik ihrer Darstellung in unserer derzeitigen Wirklichkeit.
Im letzten Raum treffen die Besucher:innen auf „Devotion Structure (Accumulated)” (2025), einen stählernen Votivständer, auf dem 247 mundgeblasene, rote Kerzenhalter in einem Rastermuster angeordnet sind. In ihnen befinden sich LED-Wachskerzen, von denen manche in zufälligen Zeitabständen flackern, während ein leichter Geruch brennenden Paraffinwachses aufsteigt. Nach einer Weile ist leise das Geräusch klirrender Gläser zu hören, während sich das Flackern ausbreitet. Die künstlichen Flammen verdichten sich nach und nach zu einer zentralperspektivischen Vortex-Animation, die das Raster verschlingt, während aus dem Inneren der Arbeit synchronisierte, pulsierende Klänge ertönen. Das animierte Wurmloch beschleunigt sich zu einem Wirbel, der gemeinsam mit dem nun aus allen Richtungen erschallenden fieberhaften Crescendo die hypnotische Dramaturgie von Gebet, Frömmigkeit und Ergebung in ein Zusammenspiel von Licht, Schatten, Bewegung und Klang übersetzt. Vielleicht ist man hier doch an einer Art Ereignishorizont angelangt, auch wenn er sich am Ende eines gewöhnlichen Galerieraums befindet.
Jeremy Shaw wurde 1977 in North Vancouver (BC), Kanada, geboren. Er lebt in Berlin, Deutschland.
Jeremy Shaw
Towards Logarithmic Delay
Bis 31. August 2025
Kuratiert von Damian Lentini