Jean Renoir - Humanistischer Blick aufs Leben

Wie Hitchcock, Ford oder Hawks gehört Jean Renoir zu den ganz Großen der Filmgeschichte, zu denen, die in der Stummfilmzeit begannen und auch oder erst recht im Tonfilm Meisterhaftes schufen. Zahlreich sind die Höhepunkt in seinem Werk, am bekanntesten ist wohl "La grande illusion", am vielschichtigsten und reichsten aber "La regle du jeu". – Das Filmpodium Zürich widmet dem Meisterregisseur im April eine Retrospektive.

Am 15. September 1894 in Paris als zweiter Sohn des Malers Auguste Renoir geboren war Jean Renoir zunächst Keramiker, später Journalist und Schriftsteller, ehe er 1924 zum Film kam. Auf sein Debüt "Une vie sans joie" ("Ein freudloses Leben", 1924) folgte noch im gleichen Jahr "La fille de l´eau" ("Das Mädchen vom Fluß") und zwei Jahre später die Zola-Verfilmung "Nana", die aber ein kommerzieller Misserfolg wurde. Voller Experimentierfreude zeigte sich Renoir dann in der Adaption des Andersen-Märchens "La petite marchande d"allumettes" ("Das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern", 1928), in dem er das Mädchen auf einem Pferd durch Wolken reiten ließ und durch optische Tricks Menschen und Gegenstände verschwinden ließ.

Schon bei seinem ersten Tonfilm "On purge bébé" ("Baby wird bestraft", 1931) experimentierte er mit authentischen Tonquellen und mit "La chienne" ("Die Hündin", 1931) kündigte sich der "Poetische Realismus" an, in dem ein Blick für realistische Details mit einer poetischen visuellen Gestaltung kombiniert wird. Bezeichnend für diese filmische Richtung ist auch das Interesse für Außenseiter und eine tragisch endende Liebesgeschichte, in diesem Fall die zwischen einem kleinen Angestellten und einer Prostituierten.

Mit "Toni" (1935) schuf Renoir dann einen Film, der allgemein als wichtiger Vorläufer des italienischen Neorealismus gilt, auch wenn Renoir selbst den Vergleich mit dieser Stilrichtung zurückwies. Nach einem authentischen Fall wird dabei eine Geschichte aus dem Fremdarbeitermilieu in Südfrankreich erzählt, wobei an Originalschauplätzen und überwiegend mit Laiendarstellern gearbeitet wurde. – Der Blick aufs Leben, Grenzgänge zwischen Fiktion und Dokumentarismus, wo immer auch Raum für (scheinbar) Improvisiertes bleibt und der Kamera und ihren Bewegungen Freiraum gewährt wird, kennzeichnet alle Filme Renoirs.

Neben Filmen, in denen er Partei für die aus Kommunisten, Sozialisten und Radikalen gebildete Volksfront ergriff wie in "Le crime de Monsieur Lange" ("Das Verbrechen des Herrn Lange", 1936), in dem die Ermordung eines kapitalistischen Ausbeuters als legitimer revolutionärer Akt gedeutet wird, oder dem Revolutionsfilm "La Marseillaise" (1937) und dem impressionistischen Zwischenspiel "Une partie de campagne" ("Eine Landpartie", 1936), entstanden in dieser Zeit mit "La grande illusion" ("Die große Illusion, 1937) und "La regle du jeu" ("Die Spielregel", 1939) zwei Hauptwerke Renoirs.

Während er in dem im Ersten Weltkrieg spielenden "La grande illusion" zeigt, wie sich einerseits in einem Kriegsgefangenenlager die Klassengegensätze aufheben, andererseits Verständigung über die Grenzen durch Zugehörigkeit zum gleichen Stand möglich ist, beginnt "La regle du jeu" als scheinbar frivole Komödie um Liebe und Eifersucht, die sich zusehends in eine bitterböse Satire wandelt. Kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs hat Renoir mit diesem Film, der gnadenlos auf das Treiben der vornehmen Gesellschaft auf einem Jagdschloss blickt, einen brillanten Abgesang auf eine in Konventionen erstarrte dekadente Gesellschaft, die nur mit Lügen den Schein aufrecht erhält, geschaffen. Wie wenig später Orson Welles in "Citizen Kane" arbeitet auch Renoir in diesen Meisterwerken mit großer Tiefenschärfe, durch die in ungeschnittenen Plansequenzen, in denen die Handlung auf mehreren Raumebenen abläuft, erzählt werden kann.

Die Vorliebe für lange Einstellungen gegenüber der Montage hat auch mit einer Haltung gegenüber dem Publikum zu tun. Während schnelle Schnitte den Blick des Zuschauers leiten, ihn auch manipulieren, lassen lange Einstellungen, Plansequenzen mit großer Schärfentiefe, dem Betrachter Raum und Zeit, zwingen ihn sich selbst im Bildraum umzusehen, sich zu orientieren und die Teile, also das Geschehen im Vorder-, Mittel- und Hintergrund zu einem Ganzen zu kombinieren.

Nach Einmarsch der Nazis setzte Renoir sich 1940 zunächst nach Südfrankreich ab, ehe er seine Heimat in Richtung USA verließ. Dort konnte er zwar schon 1941 "Swamp Water" an Originalschauplätzen drehen, doch der Produzent Darryl F. Zanuck behielt sich den Final Cut vor. Weitere Filme folgten, aber nach Konflikten mit den Produzenten der RKO reiste Renoir nach Indien, wo er mit "The River" 1951 seinen ersten Farbfilm realisierte. Dokumentarische Aufnahmen vom indischen Alltag werden dabei mit einer Spielfilmhandlung um das Erwachsenwerden und die erste Liebe dreier Mädchen britischer Abstammung verbunden.

Zurück in Frankreich wandte er sich vom Realismus seiner Vorkriegsfilme ab. Indem er in den Studioproduktionen "La carozza d´oro" ("Die goldene Karosse", 1953) und "French Can Can" (1955) die Künstlichkeit bewusst ausstellte und nicht Wirklichkeitscharakter behauptete, sind freilich auch diese Filme wiederum realistisch.

Ende der 50er Jahre zog sich Renoir mit der modernen "Dr Jekyll und Mr Hyde"-Version "Le testament du docteur Cordelier" (1959) sowie dem impressionistischen "Le déjeuner sur l´herbe" ("Frühstück im Grünen", 1959) langsam vom Kino zurück, drehte dann 1969 noch einen Fernsehfilm ("Le Petit Théâtre de Jean Renoir", 1970) und ließ sich dann in Beverly Hills nieder, wo er am 12. Februar 1979 im Alter von 84 Jahren starb.