Japanischer Starfotograf und Enfant terrible der Fotokunst

Nobuyoshi Araki ist unbestritten einer der radikalsten und einflussreichsten Fotografen unserer Zeit. In seinem Schaffen außerordentlich produktiv und innovativ gilt er, weit über das Gebiet der Fotografie hinaus, als eine der wichtigsten Figuren in der aktuellen Kunstlandschaft. Mit seiner provokanten Thematisierung sozialer Tabus rund um Sexualität und Tod sorgt der Künstler auch nach Jahren im Kunstbetrieb immer wieder für heftige Kontroversen.

Nobuyoshi Araki, Tabubrecher, Fotomaniac, Innovator und "Genie mit einem Hang zur Anarchie" entzieht sich einer Einordnung in die Standard-Kategorien von Kunst, Reportage oder Werbung. Seine Fotografien gefesselter Frauen machten ihn international berühmt, doch sie trugen ihm auch den Ruf des Pornografen ein. "Ich umschnüre den Körper der Frauen, weil ich weiß, dass ich ihre Seele nicht zu fesseln vermag. Binden lässt sich nur ihre Physis. Die Frauen zu umschnüren läuft in einem gewissen Sinne darauf hinaus, sie zu umarmen, zu liebkosen", sagt Araki selbst zu seinen Motiven. Und: Eine Bondage-Serie sei wie jede seiner Porträtaufnahmen Ergebnis einer "Ménage à Trois", in der allen Beteiligten – Fotograf, Kamera und Modell – eine gleichwertige Rolle zukommt. Ohnehin sieht sich Araki selbst weniger als Erotomane, denn als obsessiver Dokumentarist seines eigenen Lebens. Arakis Arbeit kennzeichnet eine besessene Produktivität, täglich entstehen bis zu 1.000 Aufnahmen. Anerkennung in der Kunstwelt brachte Araki vor allem seine Innovationskraft, sein immer wieder neues Spiel mit dem Medium Fotografie, die Einbindung von Malerei, Zeichnung, Film, Diaprojektion und Musik, die besondere Farbgebung seiner Prints. Arakis reiche Bildsprache, in der sich Einflüsse der erotischen Ikonografie der Edo-Periode (Friedens- und Blütezeit in Japan, 1603-1868) und der Hochglanzästhetik der Werbe- und Medienwelt erkennen lassen, wird durch den Einsatz von Mitteln des Narrativen vielschichtig und komplex. Wiederholung, Text und Zitat, Collage und Polaroid, nicht zuletzt seine eigene Präsenz als "Ich-Erzähler" und Darsteller charakterisieren sein Werk. Arakis Fotografien, in denen der Künstler Realität und Fiktion verschwimmen lässt, entführen in eine rätselhafte Bilderwelt, die vom Betrachter Zeit erfordert. Arakis umstrittene Akte und intime Studien des weiblichen Körpers sind nur ein Teil eines weiten Motivkanons, mit dem der Künstler eine Welt beschreibt, in der Leben, Tod und Sexualität ineinander greifen und verschmelzen, Leben unausweichlich zum Tod führt und Tod zu neuem Leben. Arakis Fotografien verkörpern, wie die Kuratorin Hisako Motoo schreibt, "alle Aspekte des Seins: Leben und Tod, Eros und Thanatos, Sehnsucht und Erwachen, Hoffnung und Enttäuschung, Glück und Unglück, Yin und Yang, Realität und Illusion". Sie handeln vom Existenziellen, Alltäglichen ("In den normalsten Szenen des Alltags ist Drama", sagt Araki) und zutiefst Persönlichen. Sie erzählen von der Intimität seiner Flitterwochen und vom Tod seiner geliebten Frau Yoko (Sentimental Journey / Winter Journey), vom heiteren Straßenleben und tabulosen Rotlichtmilieu in den Gassen, Geschäfts- und Unterhaltungsvierteln Tokios, vom Welken exotischer Früchte und Blüten, von Verfall, Nostalgie und Poesie. Und immer wieder zeigt Araki Menschen, japanische Gesichter, ein Thema, das den Künstler sein Leben lang begleitet. 1940 in Tokio geboren wächst Araki unweit des Kurtisanenviertels Yoshiwara im Kleine-Leute-Viertel Minowa auf, das er später als "Gebärmutter" seiner Arbeit bezeichnet. Als er zwölf Jahre alt ist, schenkt ihm sein Vater eine Kamera. Seither fotografiert Araki wie ein Getriebener, mit einem umfangreichen Set an Leica’s, Polaroid- und Kompaktkameras ausgerüstet, die Stadt Tokio in all ihren Facetten - und immer wieder Frauen. Nach einem Studium Fotografie und Film an der Chiba Universität arbeitet Araki einige Jahre für Japans größte Werbeagentur Dentsu, die er 1972 zu Gunsten seiner künstlerischen Freiheit verlässt. Er intensiviert seine fotografischen Streifzüge durch die Straßen und Gassen der Stadt, stellt in Nudelsuppenrestaurants, Wäschereien und Bars Vergrößerungen von weiblichen Genitalien aus und verschickt gebundene Kopien der Bilder als kleine Bücher an Prominente und zufällig dem Telefonbuch entnommene Adressen. In einem Land, in dem die Darstellung von Schamhaar per Gesetz verboten ist, ist all dies pure und beabsichtigte Provokation. "Unsere erste Aufgabe war es, jene Bereiche zu belichten, die als unanständig galten", sagt Araki über den Beginn seiner Arbeit, "Wir konnten es uns nicht leisten, in dieser Sache untätig zu bleiben - wir mussten klar sehen." Seine Tabubrüche lassen den Fotografen in Japan rasch zur Kultfigur werden, Konflikte mit Zensur und Polizei begleiten seine Arbeit. Ausstellungen werden untersagt, Verlage, die seine Fotografien veröffentlichen, müssen ihre Zeitschriften einstampfen lassen. Eine erste internationale Ausstellung im Forum Stadtpark Graz 1992 macht Araki schließlich auch im Westen berühmt. Arakis Arbeit vermittelt sich auf mehreren Ebenen, die Institutionen zeitgenössischer Kunst stellen nur eine Ebene dar. Sein unkonventioneller Umgang mit dem Kunstbetrieb (Araki präsentiert seine Fotografien ungerahmt, an die Wand gepinnt, geklebt oder lose gestapelt) verdichtet sich auch in seinen zahllosen Publikationen. In den letzten 45 Jahren wurden rund 500 Bildbände von oder über Araki veröffentlicht (viele davon im Eigenverlag und in limitierter Auflage), Kategorien, Genres und Kontext werden in diesen wie auch in den Ausstellungen beliebig gewechselt. Araki archiviert seine Fotografien nach Kameratyp geordnet, belässt sie meist undatiert (eine zeitliche Zuordnung würde dem Bild lt. Araki "etwas von ihrer Rätselhaftigkeit nehmen") und ohne Titel. Die einzelnen Motive scheinen in verschiedenen Zusammenhängen wiederholt auf und formen so eine immer dichter werdende Bildersammlung aus der Welt des Nobuyoshi Araki, die der Künstler mit unermüdlicher Neugier weiterhin für sich und uns festhält.
Nobuyoshi Araki Fotoarbeiten aus der Sammlung Westlicht 5. April bis 31. Mai 2014