Innerungen

Manche Erinnerungen schmerzen. Ihr Vergessen wirkt wie eine Erlösung. Würde unser Leib sich aller Schmerzen erinnern und dieses Erinnern parat halten, wir würden es nicht aushalten können. Andererseits bedarf es einer gewissen Pflege des Erinnerungsgutes, weil es sonst niedersinkt und vergessen wird, obwohl man es hat bewahren wollen.

Kollektivkörper pflegen ihre Erinnerungen; die gesellschaftlichen Erinnerungsübungen prägen eine sogenannte Gedächtniskultur. Erinnern ist nicht passiv, ist nicht nur ein Abrufen alter, gespeicherter Daten (Erfahrungen, Wissen), sondern eine aktive Konstruktion, die nie gänzlich gleichwertig (gleichgültig!) erfolgt.

Wer sich an übermenschlichen Wesen, die er imaginiert, orientiert, an einem Gott, an göttlichen Wesen, Engeln oder Dämonen, dem kann die menschliche Welt, der Mensch selbst, als minder und klein erscheinen. Verglichen mit der projizierten Allwissenheit eines omnipräsenten Superwesens erscheint dann die menschliche Sprache als dürftig, als ungenügend, als Fessel und Korsett, als Gefängnis. Solche Menschen vergiften sich selbst, weil sie die humanen Bedingungen, die als Limitationen gegenüber den Fantasiewesen erscheinen, immer als Strafe erfahren, weil ihnen nichts Irdisches genügen kann. Derartig beeinflusster Sprachgebrauch wird auch abfärben auf Wissen und sprachliche Erinnerungsgehalte.

Gedächtnis ist eine Bedingung für die Bildung und den Fortbestand einer Person. Ohne Gedächtnis keine Identifikation, keine Person, kein Ich, kein Du. Die hohe Komplexität von Gedächtnis und Erinnerungsvermögen zeigt sich einerseits in von vielen bestaunten Hochleistungen, andererseits im Persönlichkeitsverfall jener, die über verschiedene Formen der Demenz eben nicht nur ihr Gedächtnis, ihre Erinnerungen verlieren, sondern damit sich selbst, und zu lebenden Toten werden.

Ein großer Teil des Erinnerungsgutes wird unbewusst gebildet. Das bewusste Abspeichern von Gedächtnis- und Erinnerungsgehalten verläuft anders als das unbewusste. Wir haben keine volle Kontrolle über die Mischungen, wenn wir etwas „ins Gedächtnis rufen“, uns erinnern.

Bei öffentlichen Gedenkübungen zeigt sich auch leichter die Fragilität und Brüchigkeit, das Konstruierte von Gedächtnis und Erinnerung bzw. die Manipulierbarkeit beider. Auch historisches Wissens, auch kollektive „Erinnerungen“ sind konstruiert und werden in immer wieder, wie in jedem Erinnerungsakt, gewandelt, zumindest hinsichtlich der Bewertungen, der Deutungen (Interpretationen). Würden wir unser Vorstellungsbild der Türken ausschließlich aus den Erinnerungsgehalten des 17. Jahrhunderts speisen, befänden wir uns wahrscheinlich im Krieg mit ihnen. Würden wir, wie es heute immer noch fanatisierte Gruppen in Nordirland unternehmen, wiederholt ganz bestimmte Erinnerungen GEGEN eine andere Gruppe aktivieren, wir hielten die Feindschaft warm, bis sie in hitzigen Ausfällen sich entzündete, bis Kampf und Krieg herrschte. Das gilt für alle Länder und Nationen, das gilt für alle Religionen. Der Kult des „Niemals Vergessen“ kann, wenn instrumentalisiert, zu so einem Terrormittel werden. Norman Finkelstein hat eindrücklich auf Kehrseiten dieses zur Industrie gewordenen Unterfangens hingewiesen.

Viele gedenken jetzt des 1. Weltkriegs, der vor 100 Jahren begonnen wurde. Die unterschiedlichen Deutungen und Schuldzuschreibungen sind immer noch aktiv, wenn auch nicht so gefährlich wie früher. Es gibt keine Einheitlichkeit, keine Objektivität, keine Verbürgtheit. Sogar dort, wo Fakten allgemein anerkannt werden, bleibt das Problem der Deutung und Wertung. Das sollte nicht verwunderlich sein, weil für uns nichts „(be)deutungslos“ kommuniziert werden kann. Es kommt jedoch darauf an, wie frei und offen der Austausch dieser vielfältigen Deutungen erfolgt, wie genau unterschieden werden kann zwischen anerkennbaren Fakten und den Bewertungen derselben. Das ist eine Machtfrage bzw. das Resultat eines herrschenden Kräfteverhältnisses. Geschichte wird von Siegern geschrieben.