Im offenen Filmmeer - Halbzeit beim 65. Filmfestival von Cannes

22. Mai 2012
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Die Hälfte der Wettbewerbsfilme wurden beim 65. Filmfestival von Cannes inzwischen gezeigt. Für Doris Senn stellen die neuen Filme von Abbas Kiarostami, Cristian Mungiu und Thomas Vinterberg erste Favoriten für die Goldene Palme dar. Großes Schauspielerkino sah sie von Michael Haneke und Alain Resnais.

Das Wochenende war stürmisch und verregnet. Der Andrang aber unvermindert groß – sowohl auf dem roten Teppich, wo die Stars für Fotografen im Akkord von Kameraposition zu Kameraposition geschleust wurden, als auch daneben, wo chic aufgemachte junge Pärchen, Alt und Jung, im Smoking und Abendkleid mit einem Kartonschildchen in der Hand nach Tickets für eine Abendvorstellung suchen – was in Cannes Tradition hat. Die Akkreditierten wiederum, JournalistInnen und FachbesucherInnen, bildeten, mit Schirmen bewehrt, lange Schlangen vor den Eingängen der Kinos.

Doch das Warten lohnte sich: Am Wochenende gab der Wettbewerb wieder ein paar seiner Schätze frei. Darunter erste Favoriten – so der überraschende "Like Someone In Love" des iranischen Filmemachers Abbas Kiarostami. Er gilt bereits als ein Meister des Unspektakulären und des subtilen Humors. Sein jüngstes Werk nun – eine französisch-japanische Koproduktion – macht seinem Namen alle Ehre. "Like Someone In Love" ist ein leichtfüßiges Drama, das vor allem auf alltäglichen, ungeschliffenen Dialogen basiert und damit ein bisschen an die feingesponnene Rhetorik in Filmen von Éric Rohmer erinnert.

Kiarostami siedelte – wohl zur Überraschung der meisten – seine neue Geschichte in Japan an. Im Zentrum steht Akiko, die sich ihr Taschengeld mit Prostitution verdient. Ein Business, das nicht nur in Japan unter jungen Frauen boomen soll. Akiko sieht wie ein hübsches Schulmädchen aus – was genau ihren Reiz für die meist (viel) älteren Freier ausmacht. Ihr (gleichaltriger) Freund weiss nichts davon und bedrängt sie, weil er sie öfter sehen möchte. Doch sie entzieht sich ihm – und ebenso ihrer Großmutter, die sie geduldig mit Nachrichten auf ihrer Combox versorgt.

Für einen Tag nach Tokio gekommen, möchte sie ihre Enkelin sehen und mit ihr "über gewisse Dinge reden". Akiko aber wird von ihrem "Boss" zu einem Kunden geschickt, einem ehemaligen Soziologieprofessor, der ihr Grossvater sein könnte. Dieser möchte vor allem mir ihr reden und Gesellschaft haben beim Abendessen – sie aber ist müde und legt sich nach etwas Konversation gleich im großen Bett schlafen.

Eine mit wenigen Pinselstrichen und feinem Humor hingeworfene Story, ohne Angst, fragmentarisch zu sein und zu bleiben, die unmittelbar für sich einnimmt.

Doch nicht nur Kiarostami verleiht dem Wettbewerb Profil – auch Cristian Mungiu, der 2007 mit seinem Abtreibungsdrama im Ceausescu-Rumänien, "4 Months, 3 Weeks, 2 Days", die Goldene Palme erhielt, tritt mit einem neuen Werk – seinem ersten nach 4 Months, 3 Weeks ... – in der Cannes-Auswahl an.

"Beyond the Hills" erzählt von zwei jungen Frauen, die, im selben Waisenhaus aufgewachsen, sich Familie und Freundinnen zugleich sind. Oder besser: waren. Alina, die nach Deutschland ging, um zu arbeiten, ist zurückgekehrt, um Voichita – ihre großse Liebe – zu holen und mit ihr zusammen auszuwandern.

Diese jedoch hat Zuflucht gefunden in der Religion und einem Konvent, der für sie zu ihrer neuen Familie wurde. Nicht zuletzt nennt sie die Mutter Oberin "Mama" und den Popen "Papa". Alina nimmt dies mit Befremden zur Kenntnis, bleibt aber trotzdem – in der Hoffnung, Voichita mit der Zeit überreden zu können. Doch Alina kann sich nur schwer der religiösen Ordnung unterwerfen, was schließlich zu zwei Zusammenbrüchen Alinas führt – und zur Entscheidung des im Kloster lebenden Popen, sie einem Exorzismusritual zu unterziehen, um sie vom Bösen zu befreien.

Alina wird nach einer Tage dauernden Leidenszeit dabei ihr Leben verlieren. Mungiu verfilmte im eindringlichen "Beyond the Hills" ein Fait divers, das sich 2005 in Rumänien ereignete und um die ganze Welt ging. Es ist von ähnlich beklemmend-klaustrophober Atmosphäre wie "4 Months, 3 Weeks, 2 Days" und gibt einen vergleichbar differenzierten Einblick in eine Gesellschaft, die – hin und hergerissen zwischen Tradition und Moderne, zwischen Aberglauben und Aufgeklärtheit – solches im 21. Jahrhundert zulässt.

Dass Hetzjagden sich aber auch – und dies heutzutage – in sogenannt aufgeklärten westlichen Ländern ereignen könnten, beweist "Jagten" des erst 43-jährigen, sehr produktiven dänischen Regisseurs Thomas Vinterberg, der blutjung mit Lars von Trier die Dogma-95-Bewegung begründete und mit "Festen" berühmt wurde: 1998 erhielt er dafür in Cannes den Jury-Preis.

"Jagten" nun handelt von Lucas (gespielt vom dänischen Starschauspieler Mads Mikkelsen): einem sympathischen Mann in den besten Jahren, frisch getrennt von seiner Frau und sehr verbunden mit seinem Jungen, den er gerne zu sich nehmen möchte. Lucas pflegt auch eine kleine Freundesclique, die viel Zeit miteinander verbringt. Bis zu dem Zeitpunkt, als ein kleines Mädchen aus dem Kindergarten – Clara, die Tochter von Lucas" bestem Freund – erzählt, dass dieser ihr sein Glied gezeigt habe.

Die übereifrige Kindergartenleiterin streut die Nachricht im ganzen Dorf, und so ist der Verdächtige bald der Schuldige. Und bleibt es auch, nachdem die Polizei nichts finden kann, was die Anschuldigung erhärten würde: Die Meinungen sind gemacht, und die Freundesclique und das Dorf will nichts mehr mit ihm zu tun haben.

Mit unglaublicher Intensität erzählt Vinterberg diese Geschichte einer eigentlichen Hexenjagd, die deutlich macht, wie fragil Werte wie Ethik, Gerechtigkeit und gesunder Menschenverstand sind und wie schnell eine Gesellschaft – an einer wunden Stelle getroffen – in einen Zustand außerhalb von Recht und Gesetz fallen kann.

Die beiden neuen Werke der Altmeister Michael Haneke (der 2009 für "Das Weisse Band" die Goldene Palme erhielt) und Alain Resnais, der dieses Jahr 90 wird, vertrauen beide auf große SchauspielerInnen und ihre Leistung.

Michael Haneke inszeniert mit "Amour" die Geschichte eines alten Musiklehrer-Ehepaars, Georges (Jean-Louis Trintignant) und Anne (Emmanuelle Riva). Anne hat einen Schlaganfall und nimmt nach einem Spitalaufenthalt ihrem Mann das Versprechen ab, sie nie (mehr) ins Krankenhaus oder in ein Heim zu stecken. Und das versucht Georges denn auch, so lange er das irgendwie mit seinen ebenfalls schwindenden Kräften zu bewältigen vermag.

In einem unstrukturierten Zeitfluss, was die Handlung (das heißt die fortschreitende Krankheit und Demenz Annes) etwas sprunghaft anmuten lässt, erzählt Haneke den Zerfall Annes und wie Georges zunehmend damit überfordert ist. Es sind durchaus brisante, tabuisierte Themen, die Haneke da angeht – auch wenn er sie weniger emotional als rational rüberzubringen vermag.

Alain Resnais wiederum präsentiert mit "Vous n"avez encore rien vu" ein virtuos inszeniertes Wetteifern zwischen Theater und Film: mit großartigen SchauspielerInnen des französischen Kinos (Michel Piccoli, Sabine Azéma, Pierre Arditi, Michel Robin, Lambert Wilson, Denis Podalydès). Basierend auf einer Theaterinszenierung von "Orpheus und Eurydike", verschachteln sich die Inszenierungen und DarstellerInnen, die das Stück im Lauf ihrer Karriere spielten.

Dies im Spiegel der ewigen Themen von Liebe, Eifersucht, Wahrheit, Lüge, Tod, Treue und Untreue. Ein Plädoyer für das Theater und die Schauspielerei und vor allem gegen den Antagonismus von Theater und Film – von bester schauspielerischer Qualität, mit seinen fast zwei Stunden aber etwas lang und letztlich halt doch zu "theatralisch". Doris Senn