Ideen sitzen. 50 Jahre Stuhldesign

Anlässlich des Ankaufes von zwanzig Designklassikern durch die Stiftung für die Hamburger Kunstsammlungen widmet das Museum für Kunst und Gewerbe dem Stuhldesign von 1960 bis in die Gegenwart eine Ausstellung, die die Entwicklung des Stuhls vom Gebrauchsgegenstand bis zum Kunstobjekt nachvollzieht. Mit dieser jüngsten Erwerbung erweitert das MKG seine hochkarätige Sammlung von Sitzmöbeln. Sie bildet das Herzstück der Sammlung des modernen Möbeldesigns mit hunderten von Modellen aus allen Designepochen und den wichtigsten Ländern Europas wie auch aus Australien, Japan, den USA und Brasilien.

Die Ausstellung "Ideen sitzen. 50 Jahre Stuhldesign" zeigt rund 100 herausragende Exponate, darunter Stühle, Sessel, Chaiselongues und Hocker, die unterschiedlichste gestalterische Ansätze und die die Auswirkung technologischer Entwicklungen auf das Stuhldesign aufzeigen. Die Designschau wird dort zur Kunstausstellung, wo die Stühle zu skulpturalen Objekten werden, als deren Inspirationsquelle der Stuhl – losgelöst von seiner Funktion – zu erkennen ist. Zahlreiche Exponate illustrieren dieses Phänomen des zeitgenössischen Stuhldesigns und stehen exemplarisch für das Aufbrechen der Grenzen zwischen Kunst und Design. Stühle gelten als die Visitenkarte eines jeden Designer. Sie besitzen eine höhere visuelle Attraktivität als Tische, Schränke, Sofas oder Küchenmöbel und stehen im Mittelpunkt der Auseinandersetzung mit Design.

Einen Stuhl zu entwerfen gehört zu den großen Herausforderungen für Designer. Diese Aufgabe schien im Sinne der Moderne vollendet gelöst, als Michael Thonet seinen Designklassiker, den Kaffeehausstuhl Modell Nr. 14, in der seinerzeit revolutionären Bugholz-Technik herausbrachte. Heute, 150 Jahre später, gibt es unzählige neue Stuhlmodelle, die den künstlerischen, technischen und gesellschaftlichen Wandel vor Augen führen. Wie kein anderer Gegenstand ermöglicht das Thema Stuhl eine Auseinandersetzung mit widerstreitenden Positionen des Designs, auf deren einer Seite die vernunftorientierte, zweckdienliche Form, auf der anderen das freie Spiel der Phantasie und die künstlerisch autonome Gestaltgebung stehen. Zwischen diesen beiden Polen hat sich eine tausendfache Vielfalt etabliert.

Im Stadium des Entstehens eines jeden Sitzmöbels steht eine neue Idee, die von Faktoren bestimmt wird wie dem Nutzen, dem Markt und der Zielgruppe, der Firmenphilosophie, den Materialien, den Herstellungsverfahren, dem technologischen Fortschritt, und schließlich entscheidend von der Persönlichkeit des Designers, sei er freier Künstler, Bildhauer, Regisseur, Architekt oder einfach Produktentwerfer. Der Begriff "same, same – but different" gilt in besonderer Weise für den Stuhl: als ein geistiges und materielles Produkt, das in hundertfachen Formulierungen manifest ist. Die Ausstellung "Ideen sitzen. 50 Jahre Stuhldesign" erweist sich somit als Spiegelbild der Zeit und ihres Selbstverständnisses, ihren Zwängen und ihrer Sehnsucht nach der Freiheit des Gestaltens.

Die Design-Ausstellung wird dort zur Kunstausstellung, wo sie autonome Skulpturen zeigt. Der Stuhl, losgelöst von seiner Funktion, dient ihnen nur noch als Inspirationsquelle. Die neu erworbenen Stühle illustrieren dieses Phänomen des zeitgenössischen Stuhldesigns und stehen exemplarisch für das Aufbrechen der Grenzen zwischen Kunst und Design. Zu den Designklassikern unter ihnen zählen der berühmte Kugelsessel "Sunball" von Günter Fedinand Ris, der "Well Tempered Chair" von Ron Arad, Stühle von Stefan Wewerka und der "Proust Armchair" von Alessandro Mendini, der die barocke Opulenz des Louis XV-Stil mit einem impressionistischen Motiv als Bezug aus der Zeit Marcel Prousts vereint. Die Designpositionen der Sammlung werden neben anderen bereichert durch den "Bone Chair", zu dem sich Joris Laarman vom natürlichen Knochenwachstum inspirieren ließ. Vladi Rapaport machte mit "The skull chair" und "The brain footstool" Schädel und Hirn zu überdimensionalen Sitzgelegenheiten. Mit der Sitzbank "Petit Jardin" umarmt Tord Boontje den Sitzenden mit einem zarten Geflecht aus Blättern, Blumen und Zweigen aus weißem Stahl. Louise Campbell formte mit "Veryround" eine ornamentale Sitzskulptur aus 240 ineinander gesteckten Stahlkreisen.

Mit der Einbettung der unterschiedlichen Designideen und –strömungen in den historischen Kontext wird auch die enge Verbindung von Designgeschichte zu gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklungen deutlich. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts stand das Stuhldesign noch unter einem sozialen und funktionalen Diktat: gute Sitzqualität zu möglichst niedrigen Preisen für die Masse. Spätestens mit den Erfindungen neuer Materialien wie Stahlrohr und Schichtholz kamen neue Herstellungstechniken hinzu. Diese Interessen wurden Anfang der 1960er Jahre potenziert durch die Möglichkeit, Stühle im Spritzgussverfahren in Kunststoff herstellen zu können. Die 1960er Jahre sind gekennzeichnet vom errungenen Wohlstand der Nachkriegsjahre, aber auch von aufkeimenden gesellschaftlichen Unruhen. Die Ausstellung zeigt einige zunehmend unkonventionelle Sesseltypen, die die innere Spannung der Zeit widerspiegeln. Gaetano Pesces "Donna" von 1969 ist nicht nur ein behaglicher Ruhesessel sondern vor allem ein politischer Kommentar zur Rolle der Frau in der modernen Gesellschaft. Die Aussicht auf wachsende Märkte führte in der chemischen und Möbel produzierenden Industrie dazu, für die Herstellung von Kunststoffstühlen zu investieren - eine Entwicklung, die allerdings zu Beginn der 1970er Jahre, mit Ausbruch der Ölkrise 1973, an ihr vorläufiges Ende gelangt.

Die 1970er Jahre führten zu verhältnismäßig wenigen durchschlagenden Modellen; es sind Jahre der Kapitalismuskritik, des Konsumverzichts und der Verunsicherung der Industrie. Stefan Wewerka gibt diesen Zeitphänomenen Ausdruck, indem er mit dem "Classroom Chair" eine Ikone der Instabilität schafft; das Vertraute löst sich auf, kippt weg. Der amerikanische Architekt Frank Gehry hingegen entwickelt neue Sitzmöbel aus verklebter Wellpappe, deren Schichten so konstruiert sind, dass sie auch größtem Druck widerstehen; sein "Wiggle Dining Chair" ist eine Erfindung, die weit in die Zukunft weist, ein Stuhl ohne materiellen Aufwand, mit dem Einsatz sparsamster Mittel originell gestaltet. Am Ende des Jahrzehnts erschafft Alessandro Mendini mit seinem Sessel "Proust" das ganze Gegenteil: ein Sitzmöbel aus (neo-)barocken Umrissformen, mit Farbzitaten aus der Epoche des Impressionismus farbenfroh präsentiert. Mendinis Anliegen ist das historische Zitat; damit wird der Sessel zu einem frühen Klassiker der Postmoderne, jener Architektur- und Designbewegung, die bewusst auf traditionelle Stilmittel zurückgreift, diese reflektiert und ironisch geistreich umdeutet. Architektur und Innendekorationen werden zu einer Form des intellektuellen Spiels.

Dieser Ansatz ist der Funke, der um 1980 die italienische Künstlergruppe Memphis unter Ettore Sottsass und Michele de Lucchi entzündet. Sottsass schöpft aus der Vergangenheit und den architektonischen Zeugnissen der Weltkulturen. Ihm gelingt es, aus plastischen und architektonischen Anregungen neue Möbel mit Solitärcharakter zu entwickeln, die sich als bunt-farbige Monumente behaupten und für einige Jahre zu (an)erkannten Geschmacksikonen werden. Memphis bringt Lust und Vergnügen in die bis dahin überwiegend grau-braune Möbelszene, seine Produkte haben Spaßcharakter. Sie sind assoziativ, voller Anspielungen an frühere Kulturen, mit der Freude an der Maskerade, verpoppt und Ausdrucke einer Denkungsart, die sich von der Industrie und ihren Marktstrategien bewusst abwenden möchte. Memphis-Möbel sind handwerklich unaufwändig hergestellt, bestehen aus Spanplatten und sind mit farbigen Laminaten beklebt. Sottsass kommt das Verdienst zu, gegen den Zeitgeist, wieder auf die Bedeutung der Ornamentik zu verweisen.

Während Memphis mit Einzelstücken Lust auf neue Möbel macht, gehen andere Designer in Deutschland, England, Japan oder der Schweiz, die dem zeitgemäßen Produktdesign nahestehen, den Weg, Stühle aus Metall zu entwerfen. Die Materialien sind Stahlrohr, Stahlblech oder Metallgitterdraht. Geistiges Vorbild sind die aus dem Bauhaus erwachsenen Kreationen der 20er und frühen 30er Jahre; entsprechend ambitioniert sind ihre Lösungen. Neben Norditalien behaupten sich Paris mit Philippe Starck und Barcelona als neue Hauptstädte des Designs. Starck gelingt es, in nur wenigen Jahren zahlreiche neue Stuhlmodelle in verschiedensten Materialien zu entwerfen, die Metall, Holz aber auch Kunststoff umfassen. Starcks Philosophie zielt darauf, möglichst neuartige Designideen zu populären Preisen auf den Markt zu bringen. Damit wird er zum Gegenpol einer in den 80er Jahren aufkommenden Entwicklung, Designobjekte in kleinen Stückzahlen exklusiv anzubieten. Bildende Künstler (in der Sammlung des MKG sind diese durch Donald Judd, Franz West und Bob Wilson vertreten) bringen nun Modelle auf den Markt, und nicht zufällig widmet sich die documenta des Jahres 1989 ausgiebig dem Thema Design.

Die 1990er Jahre versuchen zu einem Designbewusstsein zurückzukehren, das auf Schlichtheit und Einfachheit setzt und Sitzmöbel aus Naturholz anbietet. Helle Hölzer und eine konzise, rationale Grundhaltung erfüllen den Wunsch nach klaren Formen mit warmer, natürlicher Ausstrahlung. Zahlreiche Designer wie Jasper Morrison oder Axel Kufus, wenden sich gegen die Wohlstandseuphorie des ausgehenden Jahrhunderts. Risse im Gesellschaftsgefüge versinnbildlichen auch Werke wie Tejo Remys "Rug Chair", der aus Stoffresten besteht. In Brasilien konstruieren die Gebrüder Campana mit "Favela" einen Armlehnsessel aus den Abfallhölzern der Slums und weisen damit auf die Not der Bewohner wie auf die kreative Möglichkeit, auch aus minderwertigem Material gebrauchstüchtige Gegenstände zu kreieren. Auch Marcel Wanders" "Knotted Chair" bedient sich einfachster Textilschnüre; sein Stuhl ist so konstruiert, dass er ohne feste Stützen, nur aus der Verspannung des Netzes heraus, einen Menschen tragen kann.

Im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts setzen Designer wie Konstantin Grcic oder die Gebrüder Bouroullec den Ansatz, intelligente Designlösungen für breite Bevölkerungsschichten zu schaffen, fort. Gleichzeitig arbeiten junge Designer wie der Holländer Joris Laarman oder der Franzose Patrick Jouin mit digitalen Entwurfsmethoden, mit denen sie neue Konstruktionsweisen berechnen oder Mittel des Rapid Prototyping einsetzen. Ihre Werke haben stark experimentellen Charakter und muten wie Ideen für eine Welt von morgen an. Andere Designer, wie etwa der Niederländer Tord Boontje, operieren mit lasergeschnittenen Blechen, mit denen sie ornamentale Kompositionen erstehen lassen. Die meisten Objekte der jungen zeitgenössischen Designerszene sind nur in wenigen Exemplaren hergestellt und werden heute überwiegend über Designgalerien vertrieben. Als Sitzmöbel für ein neues Zeitalter nehmen sie den elitären Impuls der 1980er Jahre wieder auf; in geringer Auflage produziert, stehen sie im Rang singulärer Kunstwerke. Museen, denen es gelingt, diese direkt vom Künstler zu erwerben, zeigen damit Modelle, die noch gänzlich "sehfrisch" sind und zu unmittelbaren Reflektionen Anlass geben.

Das MKG besitzt als eines der führenden Museen seiner Art in Deutschland eine umfangreiche Sammlung zur Geschichte des Designs des 20. Jahrhunderts. Ihr Herzstück ist die Sammlung der Sitzmöbel, die hunderte von Modellen aus allen Designepochen und den wichtigsten Ländern Europas, aber auch aus Australien, Japan, den USA und Brasilien enthält. Unter den Namen ihrer Entwerfer finden sich weltbekannte Namen wie William Morris, Peter Behrens, Henry van de Velde, Le Corbusier, Mies van der Rohe, Alvar Aalto, Eero Saarinen, Charles Eames und viele andere.

Ideen sitzen. 50 Jahre Stuhldesign
29. September 2010 bis 13. März 2011