Ich, zweifellos. 1309 Gesichter

Wer bin ich? (und wenn ja, wie viele?) Wohl dem, der darauf antworten könnte: "Ich, zweifellos." Seit jeher suchen Philosophen, Künstler, Schriftsteller, Mediziner und Sozialwissenschaftler eine Antwort auf die Grundfrage menschlicher Existenz zu finden. Das Aufkommen – und der Erfolg gerade bei der jüngeren Generation – von neuen Medien und Kommunikationsplattformen wie Facebook oder MySpace hat die Diskussion neu entfacht.

Parallel zu James Turrells virtuosen Lichtarbeiten ("The Wolfsburg Project", noch bis zum 5. April 2010) zeigt das Kunstmuseum in seinen oberen Räumen zeitgenössische Auseinandersetzungen mit dem Thema Identität. Mit Ausnahme eines historischen Ehrengastes aus dem benachbarten Herrenhaus Nordsteimke der gräflichen Familie von Schulenburg sind die repräsentierten Künstler zwischen 1941 und 1974 geboren und beleuchten mit ihren Arbeiten jeweils verschiedene Aspekte im zeitgenössischen Diskurs um die zentrale Frage nach dem Ich. Dass der Ausgangspunkt für die Suche nach der eigenen Identität immer ein anderer ist, davon zeugt die sowohl medial als auch inhaltlich unterschiedliche Herangehensweise an das Thema.

In der Ausstellung werden Werke von neun Künstlern und Künstlerinnen gezeigt, die sich mit dem Thema Identität auseinandersetzen. Alle neun finden sehr unterschiedliche Antworten auf die Frage nach dem Ich – und, damit untrennbar verbunden - nach dem Du, nach dem Gegenüber, nach dem oder der Anderen. Und bezeichnenderweise scheint keiner der Jüngeren eine klare Antwort mit seinen Bildern liefern zu wollen oder zu können, es gibt Keinen der sagen könnte: "Ich, zweifellos."

In Antoine Pesnes historischem Bildnis des Grafen Matthias Johann von der Schulenburg-Emden (1661-1747), Feldmarschall der Republik Venedig kommt ein ungebrochenes Selbstbewusstsein des Dargestellten zum Ausdruck, das in einer den Bildaufbau bestimmenden Herrschaftsgeste kulminiert. Der berühmte Vorfahre der Schlossherren von Wolfsburg zeigt die wichtigste, die repräsentative Funktion eines altmeisterlichen Portraits – der Dargestellte wird historisch bezeugt und die ruhmreich vollbrachten Taten für die Nachwelt gesichert.

In den Bildern der jüngeren Künstler hingegen manifestiert sich ein deutlicher Zweifel an der Eindeutigkeit des eigenen Bildes. Die amerikanische Fotokünstlerin Cindy Sherman (geb. 1954) erfindet sich in ihren Untitled Film Stills selbst stetig neu und verwirft damit alle Sicherheiten, die in Bezug auf Identität, Authentizität und Abbildbarkeit bis in die Moderne Gültigkeit hatten. Auch der auf der diesjährigen Biennale von Venedig für den besten nationalen Pavillon ausgezeichnete amerikanische Künstler Bruce Nauman (geb. 1941) stellt durch das beliebige Ändern der eigenen Hautfarbe in seiner frühen Videoarbeit Flesh to White to Black to Flesh fremde und eigene Kategorien der (Selbst-)Einschätzung in Frage.

Christian Boltanskis (geb. 1944) epochale Arbeit Menschlich mit 1300 anonymen Einzelportraits zählt zu den Kernstücken der Sammlung des Kunstmuseums, die in diesem Jahr ihren 15. Geburtstag feiert. Das einzelne Gesicht droht in der Komplexität des Ganzen zu verschwinden und wird dennoch zum grundlegenden Ausgangspunkt aller Überlegungen. Im umgekehrten Prozess filtert Beat Streulis (geb. 1957) fotografischer Fokus Passanten und Flaneure einer Großstadt in präzisen Momentaufnahmen. Seine Fensterinstallation Brussels 03/04 an der gläsernen Rotunde des Kunstmuseums strahlt in der Nacht auf den Hollerplatz aus und schafft so eine transparente Brücke zwischen Kunstmuseum und Stadt.

Brian Alfreds (geb. 1974) gemalte Kleinportraits erinnern, allein schon ob ihrer zierlichen Größe, an Elizabeth Peytons (geb. 1965) intime Darstellungen von Freunden, von Popstars oder Mitgliedern der britischen Königsfamilie. Während Peytons ikonische Bildnisse jedoch das eigentlich Entfernte, nur aus Hochglanzmagazinen Vertraute, in unsere unmittelbare Nachbarschaft rücken und die Schönheit des Einzelnen feiern, rückt Brian Alfred in seiner Arbeit Millions Now Living Will Never Die!!! die Gemeinsamkeiten seiner virtuellen Familie in den Vordergrund.

In Fiona Tans (geb. 1966) vielfach ausgezeichneter Videoinstallation A Lapse of Memory wird das Vergessen der eigenen Biografie zum Zeichen einer verrinnenden Identität. In eindrücklichen Filmbildern schildert die niederländisch-indonesische Künstlerin die Suche nach einem neuen und offenen Bild für Identität. Sie findet dafür jenseits vorgefundener Kategorien neue Formen und nähert sich mit fließenden Strukturen einer Vielgestaltigkeit der Welt zu Beginn des 21. Jahrhunderts an. Rita Werneyer

Ich, zweifellos. 1309 Gesichter
21. November 2009 bis 28. März 2010