Hermann Nitsch - Zeichnungen

Die Ausstellung im Bruseum in Graz zeigt die Vielfalt von Nitschs zeichnerischem Œuvre im Überblick: von den frühen informellen "Kritzelzeichnungen" hin zu seinen späten abstraktexpressiven Ölkreidezeichnungen, von den teilweise monumentalen Architekturentwürfen hin zu den zahlreichen Aktionsskizzen, musikalischen Partituren und konzeptuellen Farbskalen. Die Zeichnung zeigt sich nicht nur als ein integraler Bestandteil im Gesamtkunstwerk des Künstlers, sondern in ihr manifestiert sich auch auf herausragende Weise die Grundkonzeption seines gigantischen Orgien Mysterien Theaters.

Nur wenige Künstler:innen haben die Grenzen der Freiheit so beständig ausgelotet und sind dafür so oft mit Strafanzeigen, Protesten und Drohungen bedrängt und verfolgt worden wie Hermann Nitsch. Die Rezeption seiner Kunst ist eine Geschichte des Missverständnisses und der Skandalisierung. Zugleich ist diese Reaktion der medialen Öffentlichkeit auch nicht verwunderlich, wenn man bedenkt, dass der Künstler sich zum Ziel gesetzt hat, zu den Abgründen und Untiefen der Gesellschaft vorzudringen.

Allen Widerständen zum Trotz hat er an seiner Idee einer Fusion aller Künste festgehalten und steht heute als Monolith in der Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts. Er hat mit seinem Orgien Mysterien Theater ein Gesamtkunstwerk für alle Sinne geschaffen, hat die traditionellen Parameter der Malerei und des Theaters erweitert. Er hat das Kultische, das am Anfang der Entwicklung der Kunst steht, zurück in die Gegenwartskunst geholt und er hat Kunst und Leben verschmolzen. Nitsch hat jedoch auch zeit seines Lebens gezeichnet und auf dem Papier sein Konzept und seine Ideen für das Orgien Mysterien Theater entworfen und formuliert.

Das Orgien Mysterien Theater als Gesamtkunstwerk

In das Orgien Mysterien Theater subsummiert Nitsch alle Aspekte seines vielfältigen Schaffens. Es ist eine der letzten großen künstlerischen Utopien des 20. Jahrhunderts. Bereits seit 1957 arbeitet der Künstler an der Idee eines gigantischen, mehrtägigen Dramas, das er als "Kult des Seinsmysteriums" begreift. Beeinflusst von der Philosophie Nietzsches und Schopenhauers, der Psychoanalyse Freuds und Jungs, der griechischen Tragödie und der Idee des Gesamtkunstwerks von Richard Wagner arbeitete Nitsch an einer großen Kulturcollage. Deren Ziel war es, die gesamte Schöpfungs- und Menschheitsgeschichte in Schichten übereinanderzulegen und zu einer Essenz zu kondensieren.

Religionen, Kulte und Mythen sind ihm in Anlehnung an Freud und Jung Manifestationen des kollektiven Unbewussten, deren Bedürfnis, den Grundexzess erleben zu wollen, durch die Zivilisationsgeschichte sublimiert worden ist. Nitsch geht es um das unbewusste Triebhafte im Menschen, das durch äußerste Erregung in der Kunst zur Abreaktion kommen soll. Das Grundanliegen seines Orgien Mysterien Theaters ist demnach eine Intensivierung der Lebenserfahrung und eine dadurch gesteigerte Daseinsfreude als Mystik des Seins, bei der die Kunst Funktionen der Religionen übernimmt. "Wer meine Arbeit wirklich begreift, müsste eigentlich erkennen, dass sie ein sakrales Festspiel ist, eine sakrale Feier des Lebens und des Seins".

Hermann Nitsch gelangt wie auch seine Mitstreiter im Wiener Aktionismus nach figürlichen Anfängen zur Abstraktion und vollzieht einen Prozess der Erweiterung und schließlich Überwindung des Tafelbildes. Noch bevor Nitsch 1957 am Konzept seines Orgien Mysterien Theaters zu arbeiten beginnt, setzt er sich zeichnerisch mit den Themen Leid, Kreuzigung, Tod und Auferstehung auseinander – zu seinen frühesten Arbeiten zählen seine Adaptionen alter Meister wie Rembrandts Kreuzigung. Auch nimmt er die dynamische Geste seiner ersten Schüttbilder mit seinen informellen Bleistiftzeichnungen vorweg. Mit den sogenannten "Kritzelzeichnungen", die von 1959 bis 1961 entstehen, lotet Nitsch den ekstatischen Gestus der frei bewegten Hand aus. Die gestisch-informelle Zeichnung dient ihm als Möglichkeit eines unmittelbaren und authentischen Ausdrucks, mit dem er das Unbewusste zu seismografieren versucht.

Metaphorisches Hinabsteigen in die Tiefen der menschlichen Psyche

Die Zeichnung spielt in seinem Œuvre durchgehend eine zentrale Rolle. Mit den ersten Aktionen visualisiert er auf dem Blatt Papier die Handlungsabläufe und skizziert die Position für die Utensilien auf dem Tisch oder im Raum. Erste Konzeptionen seiner Architektur des Orgien Mysterien Theaters finden sich ab 1964, allerdings noch eingebettet in schriftliche Entwürfe und Skizzen für Aktionen. Den biografischen Umständen geschuldet, sind diese Ideen und Notate meist in Heften oder auf kleinformatigen Einzelblättern aufgezeichnet. Mit der Ausweitung der Aktionen und der Expansion des Orgien Mysterien Theaters entwickeln sich auch die Zeichnungen und nehmen an Größe und Umfang zu.

Die Ausstellung im Bruseum in Graz zeigt mit den Relikten aus der 16. Aktion quasi eine Projektion eines skizzierten Handlungsablaufs in den Raum. Nitsch hat für diese Aktion, die er dem amerikanischen Avantgarde-Filmemacher Stan Brakhage gewidmet hat, die Längswand des Raumes mit Packpapier ausgekleidet und mit Ölkreiden nierenförmige Kreise gezeichnet, wo das rohe Fleisch, die Fische und die Menstruationsbinden an die Wand genagelt werden. Während des Aktionsablaufs hat er dann mit "nach hyazinthen riechenden verschiedenfarbigen lippenstiften" Verbindungslinien zwischen den Objekten gezogen.

Das gesamte Werk von Nitsch versteht sich als ein metaphorisches Hinabsteigen in die Tiefen und so ist es nicht verwunderlich, dass seine Zeichnungen ab den 1960er-Jahren unterirdische Architekturanlagen darstellen, die Körper und deren Organe nachbilden bzw. darauf Bezug nehmen. Zeitgleich verlagert Nitsch seine Aktionen unter die Erde. Damit referenziert er nicht nur auf die diversen Keller, in denen seine frühen Aktionen stattgefunden haben, sondern er trifft eine bewusste Entscheidung: Der Untergrund wird zum Prinzip erkoren. Sein Hinabsteigen unter die Erdoberfläche ist ein bewusstes Eintauchen in die menschliche Psyche, eine archäologische Spurensuche des kollektiven Unbewussten, ein Schürfen in den Eingeweiden der abendländischen Kulturgeschichte.

Nitschs utopische Visionen im Orgien Mysterien Theater und in der Zeichnung 1971 kann Nitsch mit der Hilfe seiner Frau Beate Schloss Prinzendorf erwerben, das zum Zentrum seines Orgien Mysterien Theaters werden sollte. Die reale Schlossanlage wird ihm zur Folie für seine Architekturutopien. Im selben Jahr entsteht mit dem Werk Die Eroberung Jerusalems die erste großformatige Zeichnung, die in Zusammenhang mit seinem selbst verfassten Aktionsdrama gleichen Titels zu sehen ist.

Mit der immer umfangreicheren Ausarbeitung seines breit angelegten Gedankengebäudes des Orgien Mysterien Theaters verschmilzt Nitsch das "Naturereignis Mensch" zeichnerisch mit wuchernden Architekturen und adaptiert dabei nicht selten christliche Ikonografien. Das Hauptwerk dieser utopischen Projektionen ist die Arbeit Das letzte Abendmahl, die von 1976 bis 1979 entsteht. Die Haltungen der Figuren sind Vorbildern in der Kunstgeschichte entlehnt, die Darstellungen selbst entstammen dem Anatomieunterricht der Kunstakademien. Die Zeichnung erfährt wie viele andere ab den 1980er-Jahren eine Vervielfältigung im Siebdruck, was Nitsch die Möglichkeit gibt, seine zeichnerischen Konzeptionen nicht nur auf Papier, sondern auch auf Aktionsrelikte zu drucken, um sie so noch stärker in das Konzept seines Gesamtkunstwerks einzubinden.

Als Nitsch gegen Ende seines Lebens die gesamte Palette der Farben für seine Schüttbilder in Anspruch nimmt, entstehen parallel dazu auch farbenprächtige Zeichnung mit dichten Schraffuren. Es sind die Farben der Auferstehung, die sein Spätwerk prägen und sein Œuvre mit dem Prinzip Hoffnung ausklingen lassen.

Hermann Nitsch. Zeichnungen
Bis 23. Februar 2025