Heilig

Allerheiligen ist in katholischen Landen ein Gedenktag der Heiligen. Die Heiligenfigur ist heute entfernter denn je, der Feiertag ist geblieben, inhaltsleer. Am darauffolgenden Allerseelen-Tag erinnert man sich "seiner" Toten, die keine Heiligen waren, die man als "arme Seelen" bedauert, bemitleidet; aber dieses Gedenken erfolgt nicht feiertäglich, nicht festlich; Der Festtag ist leer und fremd, man freut sich der bezahlten Freizeit.

Das Reguläre und Irreguläre, das Normale und Außergewöhnliche, das Alltägliche und Heilige. Wer wollte, könnte durchaus der Vorstellung von Heiligem und Heiligen, Positives abgewinnen. Aber dann müsste er eine lebendige Vorstellung oder Anschauung davon haben, nicht nur ein vages Klischee, dem er ritualisierend folgt.

In allen Gesellschaften und Kulturen existiert Heiliges, gibt es Heilige. Im Christentum, im Judentum, im Islam, im Buddhismus, im Hinduismus, gleichwo, gibt es die Vorstellung von Heiligem und von Heiligen. "Heilig", hat man gelernt und versteht sofort, ist überaus positiv besetzt, ist wertvoll und bedeutsam, verehrungswürdig. Wenn jemandem etwas besonders teuer, lieb und wert ist, so sagt er, es sei ihm heilig. "Heilig" überhöht fast ins Tabuhafte, besonders Geschützte. Deshalb ist es für viele, trotz aller positiven Aspekte, auch etwas weltfremd, etwas entrückt, jedenfalls nicht alltäglich.

Kein Tyrann, kaum ein Herrscher war je heilig. Erfolgreiche Händler und Kaufleute konnten und können nicht zugleich Heilige werden, weil der Heilige so konsequent gewisse Regeln beachtet, die den „Normalbetrieb“, die Geschäftemacherei oder Politik aufhielten, störten. Er ist zu gut. Das darf sich eine Gemeinschaft nur in Ausnahmen erlauben. Es ist auch anstrengend, was die Mehrheit davon abhält, den beschwerlichen Weg zu beschreiten. Das verschafft den wenigen Unentwegten, Überzeugten eine Ausnahmestellung, eine besondere Leuchtkraft, ob es sich nun um Gurus oder besondere Yogis handelt, um Schamanen oder Priester, Eremiten oder sonst konsequent nach festgelegten Regeln Lebende.

Die Alten wussten um die besondere Aura einer solchen Persönlichkeit. Deshalb stellten sie diese in ihren Bildnissen mit dem „Heiligenschein“ dar. Lange, bevor die Psychologie Erklärungen lieferte, kolportierten sie das Bild der besonderen Person, des Starken, Strahlenden, des Lichtigen, Reinen, in dessen Gegenwart einem selbst ein Licht aufgehen kann, wenn man sich öffnet.

Der Heilige war oder wäre heute eine Person mit hoher Ichstärke, die aber nicht in einem falsch verstandenen Individualismus sich verzehrt, die konsequent einem anerkannten oder nachvollziehbaren Regelsystem folgt, also diszipliniert seine Triebregungen kontrolliert (man erinnere sich an Freuds Kulturkonzept!), in der Gemeinschaft seinen Platz einnimmt, auch wenn sie sich absondert, zurückzieht aus den unreinen Geschäften, um in einer Art Gegenpol das möglich Erreichbare zu praktizieren und damit zu zeigen, wohin der Weg geht oder gehen könnte bzw. sollte, der Weg der Wahrheit zur Wahrheit, zum Licht.

Kein Wunder, dass Heiliges und Heilige nicht en vogue, dass sie nicht „modern“ sind. Heilige passen nicht in das Gleichheitsprogramm demokratischer Gesellschaften, auch nicht in die bornierte Welt von Religionsfanatikern, sie stören das Getriebe der Getriebenen, die sich nicht dauern erinnern lassen wollen an Kehrseiten und Alternativen. Denn Heilige demonstrieren allein durch ihre Existenz den Unterschied, das Anderssein, sie provozieren durch ihre Stärke und Konsequenz. Man könnte sagen, sie stören durch ihren Unterschied, der das alltägliche Versagen, Nachgeben, bequeme Einschicken und Abfinden um so klarer und extremer aufzeigt, wie ihr Heiligtum Substanz hat.

Die breiten Koalitionen gegen Heiliges und Heilige zeigen sich in verschiedensten Ausformungen in allen Gesellschaften, sei es durch vernünftigen Realismus, durch Erfolgsorientierung und Ökonomie, durch Fanatismus der Ängste. Die Abwehr und Gegenwehr ist enorm. Sie ist kriegerisch und vernichtend. Es scheint, als ob eine tiefe Ahnung, die im Abendland ebenso bekannt ist wie in Fernost, eine Gefahr darstellt, der man sich durch vordergründige Aktivitäten entledigt oder zumindest erwehrt.

Heilige würden, eben weil sie gewisse Regeln beachten, bestimmte Grenzen nicht anerkennen. Sie würden nicht Feindschaft gegen Ungläubige predigen. Sie würden das Gemeinsame des eigentlich Guten betonen. Das brauchen und wollen die „Kämpfer“, die Geschäftemacher, die Ursupatoren nicht. Die wollen IHRE Macht und Vorherrschaft. Heilige sind keine Herrscher. Deshalb wird so bequem ihr Reich in die andere Welt verlegt, ins Jenseits. Dabei könnte hier und jetzt, diesseitig, Heiliges entstehen. Denn es existiert nicht irgendwo als etwas zu Findendes, sondern erlangt seine Existenz durch gewisse Handlungen und Übungen von Menschen. Heilig ist nicht Himmlisches im entrückten Sinn, sondern Humanes besonderer Güte hier und jetzt. Damit dieses Konzept nicht massenwirksam greift, haben seit je die Armen Seelen, die Nichtheiligen, dafür gesorgt, dass es entfernt bleibt, dass, mit wenigen Ausnahmen, Heilige nur „Bilder“ bleiben für die eigene, genehme Instrumentalisierung. Das merken und spüren wir in der schwachen Anwesenheit und fast allgemeingültigen Abwesenheit von Heiligem und Heiligen.