Haegue Yang – Schaltjahr

„Leap Year” ist die erste Einzelausstellung der in Berlin und Seoul lebenden Künstlerin Haegue Yang (* 1971 in Seoul) in der Schweiz. Ihr Werk umfasst drei Jahrzehnte künstlerischer Arbeit und ist eine intensive Auseinandersetzung mit den kunsthistorischen Grenzen zwischen Abstraktion und Figuration, die sich eindeutigen Zuordnungen entzieht. Yang kreiert mit unterschiedlichen Medien wie anthropomorphen Skulpturen, Installationen, essayistischen Videoarbeiten und erfahrungsbasierten Texten vielfältige Werkkonstellationen. Damit stellt sie unser Verständnis der heutigen Lebenswelt durch intime Verflechtungen zwischen Körpern und Objekten infrage.

Yang untersucht, wie Bewegungen, Gefühle und Stimmungen in unterschiedlichen Kontexten funktionieren. Dabei offenbart ihr Werk zugleich persönliche wie kollektive Dimensionen – als ein ganzheitliches Geflecht aus Erinnerungen und soziokulturellen Assoziationen. Themen wie Identität, Biografie und Transnationalität stehen im Zentrum ihrer Arbeit und spiegeln ihre subjektive Wahrnehmung einer kollektiven Gesellschaftsstruktur wider. Inspiriert von Volkserzählungen sowie ihrer jahrzehntelangen Lebens- und Arbeitserfahrung zwischen zwei Kontinenten thematisiert ihre Kunst die Realität von Migration und Vertreibung. Die Ausstellung „Leap Year” macht diese Spannung erlebbar: Das Unbehagen, sich in unterschiedlichen kulturellen Kontexten zu bewegen, ist ebenso spürbar wie die Resilienz und Anpassungsfähigkeit der Künstlerin. Zu erkennen ist das fortlaufende Beobachten, Lernen und Verlernen, das ihr Leben an verschiedenen Orten prägt. In all ihren Arbeiten bleibt Yang jedoch rätselhaft und gewährt lediglich flüchtige Einblicke in mögliche Bezüge zu ihrer koreanischen Herkunft oder ihren umfassenden Recherchen.

Die Ausstellung ist in vier zentrale Themenstränge gegliedert: Bewegung, Spiritualität, Gemeinschaft und Häuslichkeit. In Yangs Werk ist das Thema Bewegung mit vorübergehenden Erfahrungen auf physischer, emotionaler und soziopolitischer Ebene verbunden. So kombinieren die skulpturalen Arbeiten der Serie „The Randing Intermediates” (2020), die in Zusammenarbeit mit philippinischen Kunsthandwerker:innen entstanden sind, eine universelle, zugleich aber lokal verankerte Handwerkskunst mit industriellen Materialien und Elementen. Die organischen Formen von „The Randing Intermediates – Underbelly Alienage Duo” (2020) ähneln allesamt Meeres- oder Myzel-Organismen. Mit künstlichen Pflanzen geschmückt und mit industriellen Griffen versehen, erscheinen sie als hybride Gebilde, die sowohl auf Mobilität als auch auf Rituale verweisen. Die Skulpturen werden zu ausgewählten Zeiten vom Museumsteam aktiviert.

Zur Erforschung des Themas Spiritualität greift Yang auf die rituelle Nutzung von Materialität zurück. Das Werk "Tutting Seasonal Soul Glyph – Mesmerizing Mesh #183" (2023) ist Teil ihrer fortlaufenden Serie "Mesmerizing Mesh" (2021–), die aus komplexen Papiercollagen besteht. Dafür verwendet sie ein traditionelles Papier aus der Rinde des Maulbeerbaums, das auch als Hanji, Washi oder Sangpi bekannt ist. In Korea fand dieses Papier einst bei schamanischen Ritualen Verwendung, die während der Kolonialzeit nahezu verloren gingen. Das Material hat jedoch überdauert und seine Vitalität und Bedeutung innerhalb der Gemeinschaft bewahrt.

In der bahnbrechenden Arbeit "Storage Piece" (2004) treten Fragen zur Gemeinschaft offen zutage: Sie zeigt sowohl die konzeptionelle Strenge als auch die kommunale Verbundenheit innerhalb institutioneller Kontexte auf. "Storage Piece" basiert auf der autobiografischen Erfahrung der Künstlerin, ihre Werke zu Beginn ihrer Karriere nicht lagern zu können – ein Problem, das viele Künstler:innen in ihrer Anfangszeit betrifft. Die Arbeit bietet nicht nur eine praktische Lösung, sondern thematisiert auch breitere Fragen von Prekarität und künstlerischem Überleben.

Yangs Auseinandersetzung mit ihrer Vorstellung von Häuslichkeit zeigt sich in „Non-Indépliables, nues” (2010/2020), in denen ungenutzte Wäscheständer in ausdrucksstarke, anthropomorphe Skulpturen verwandelt werden. Obwohl das Werk den alltäglichen Ritualen des Auf- und Zusammenklappens der Objekte im gewöhnlichen Leben nachspürt, verweist es auch auf die Dimension des „nackten” Lebens, die sich hinter diesen häuslichen Handlungen verbirgt.

„Leap Year” umfasst zwei neue Auftragsarbeiten, die einerseits die Bewegung und andererseits den sensorischen und performativen Aspekt von Yangs Skulpturen unterstreichen: „Sonic Arch Rope – Gold Hexagon Light” (2024) und „Sonic Droplets in Gradation – Water Veil” (2024). Die verwendeten Metallglöckchen erinnern an Zeremonien und Feierlichkeiten, die eng mit Reinigungsritualen zusammenhängen. Berührungen und rasselnde Klänge, die körperlich sowie seelisch nachwirken. Yang verbindet hybride Materialien, verschiedene Techniken und komplexe Strukturen, um das faszinierende Wechselspiel zwischen Freiheit und Begrenzung zu zeigen. Sie führt die Betrachter:innen durch Räume, die zugleich von Macht und Instabilität geprägt sind – eine Spannung, die sie als Verletzlichkeit beschreibt.

Yang setzt sich auch mit der westlichen Kunstgeschichtsschreibung auseinander. Sie verfolgt bzw. hinterfragt deren modernistisches Erbe. In dieser Hinsicht lässt sie sich von Künstlerinnen wie Sophie Taeuber-Arp, Barbara Hepworth oder Pia Arke inspirieren, während sie sich selbst als Quasi-Kontrapunkt zu Marcel Broodthaers und Sol LeWitt positioniert. Im Erdgeschoss sind die Wände blau gestrichen – eine Hommage an Yves Klein. Diese Geste ist Teil von „Quasi-Yves Klein Blue”. Das Projekt wirft Fragen zur Authentizität, zum Vermächtnis und zur Dynamik institutioneller Machtstrukturen auf. Für die Umsetzung wurde das Museumsteam zur Abstimmung über die Farbauswahl eingeladen. Das Team konnte anonym für einen Blauton stimmen, der seines Erachtens dem berühmten, patentierten International Klein Blue von Yves Klein am ähnlichsten ist. Indem Yang das International Klein Blue durch eine lokal erhältliche, handelsübliche Farbe ersetzt, spielt sie mit der Bekanntheit von Kleins Blau und der Interpretation dieses monochromen Farbtons durch das Museumsteam. Die relativ neue Auseinandersetzung der Künstlerin mit Volkskunst zeigt sich im Werk „The Intermediates” (2015–). Künstliches Stroh wird auf Rahmen geflochten, wodurch Figuren oder Kreaturen entstehen, die hybride Assoziationen wecken: an Außerirdische, Kuriositäten, schamanische Praktiken, Volksfeste und heidnische Rituale. Indem das Werk die Fluidität zwischen unterschiedlichen Kulturerben und die Resilienz von Volkstraditionen unterstreicht, zeigt es auf, wie sich traditionelle Techniken an synthetische Materialien und zeitgenössische Kontexte anpassen lassen.

Auf ähnliche Weise beleuchtet „Mesmerizing Mesh” verschiedene Traditionen der Papierherstellung und -verarbeitung wie das koreanische Seolwiseolgyeong, die polnische Scherenschnittkunst Wycinanki, das mexikanische Papel Picado sowie die papiernen Hausaltäre der Hmong, einer indigenen Volksgruppe in Ost- und Südostasien. „Mesmerizing Mesh” greift die rituelle Praxis der Verwendung handgeschöpfter Papiere sowie präzise Schnitttechniken und komplexe Schichtungen auf. Die Arbeiten veranschaulichen so das große Ausdruckspotenzial eines vermeintlich einfachen Materials.

„Leap Year” lädt dazu ein, diese komplexen Konstellationen zu erkunden, in denen Objekte und Geschichten in einen Dialog mit der Gegenwart treten. Dabei eröffnet die Ausstellung den Besucher:innen die Möglichkeit, das Zusammenspiel von Bewegung, Form und Klang auf stetig wechselnde Weise zu erleben. Materialien, historische Entwicklungen und kulturelle Traditionen werden als komplexes, ganzheitliches Geflecht visualisiert und wahrgenommen. Letztlich gewährt die Ausstellung nur einen flüchtigen Einblick in Yangs Schaffen – eine vielversprechende Andeutung dessen, was noch kommen wird.

Haegue Yang: Leap Year
27. September bis 18. Jänner 2026