Grau als Farbe

Das Haus der Kunst präsentiert mit den Fotografien von Michael Schmidt eine weitere stilbildende Position der Gegenwart. In dieser Ausstellungsreihe wurden bereits Werke von Bernd und Hilla Becher, Robert Adams, Lee Friedlander, Andreas Gursky und William Eggleston gezeigt.

Mit 390 Originalfotografien bietet "Grau als Farbe" die bisher größte Übersicht über das Werk von Michael Schmidt. Ein Drittel der Exponate besteht aus neuen Arbeiten oder wurde wie die Serie "89/90", die bisher nur als Arbeitsabzüge existierte erst jetzt für die Ausstellung als neue Werkgruppe herausgebracht. Gezeigt werden die Serien Portraits (1970-74); Stadtlandschaft (1974); Berlin Wedding (1976-78); Berlin Wedding. Menschen (1977-78); Berlin, Stadtbilder (1976-80); Innenaufnahmen (1979-80); Berlin nach 45 (1980); Waffenruhe (1985-87); Selbst (1985- 88); 89/90 (1989-90); Architektur (1989-91); Ein-heit (1991-94); Ihme-Zentrum (1997-98); Frauen (1997-99); Irgendwo (2001-04) und Meer (2008-09). Die Serien werden nicht chronologisch, sondern ineinander verschränkt präsentiert.

Michael Schmidt fotografiert seit 1965, analog und in Schwarzweiß, mit einem ungewöhnlich breiten Spektrum an Grautönen. "Schwarz und Weiß sind bei mir immer das dunkelste Grau und das hellste Grau" (Michael Schmidt 1996). Den Bildern von Michael Schmidt fehlt jede oberflächliche Attraktion; sie sind ohne Ereignis, denkbar weit vom fotografischen Konzept des "entscheidenden Moments" entfernt, sie sind weder plakativ noch erzählerisch. Seit Jahrzehnten verzichtet Michael Schmidt auf Kompositionsmuster, die sich für das herausragende Einzelbild bewährt haben. Er bevorzugt die Serie, deren künstlerische Aussage sich nicht im Einzelbild erschöpft, sondern bei der ein Bild auf andere hinweist. Für jede dieser Serien sucht Michael Schmidt eine neue Art von Zugang, die dem jeweiligen Thema angemessen scheint. Dazu gehört auch das individuell gestaltete Künstlerbuch, das die Veröffentlichung einer Serie begleitet. Mit seinem ungewöhnlich sorgfältigen Produktionsprozess wurde Michael Schmidt in den letzten Jahren zum Vorbild für eine jüngere Generation von Fotografen.

Bis in die 90er-Jahre fotografiert Michael Schmidt vor allem in der Stadt, in der er 1945 geboren wurde: Berlin. Die Mauer, die das Leben in dieser Stadt prägte und sie teilte, wird 1987 mit seiner Serie "Waffenruhe" zum zentralen Thema. Seit den 90er-Jahren hat Michael Schmidt den Radius seiner Aktivitäten ausgeweitet: Für die Serie "Frauen" fotografierte er in Hannover, dann entstand auf Reisen durch die deutsche Provinz die Serie "Irgendwo". Die neuesten Werke in der Ausstellung zeigen Sichten auf das Meer.

Menschenbilder und Stadtlandschaften sind die beiden beherrschenden Themen. 1977- 78 entsteht eine Serie von Doppelporträts, die den Menschen jeweils in seinem beruflichen und seinem privaten Umfeld zeigen. Dieses Gestaltungsprinzip von ähnlichen Situationen suggeriert ein genormtes Verhalten: Zu Bürozeiten sitzt der Porträtierte hinter seinem Schreibtisch, und abends auf der Couch seines Wohnzimmers. Vom Punk, Rocker, über den Systemanalyst, Kommunalpolitiker, Heimerzieher, Diplom-Psychologen im schulpsychologischen Dienst, Sozialarbeiter bis zum Jurist beim Bezirksamt Wedding und Leiter der Öffentlichkeitsarbeit der Schering AG – jeder nimmt Zuflucht zu ähnlichen Posen, und sein jeweiliges Milieu vermittelt eine gewisse Enge. Die Doppelporträts lassen sich als Abfolge unterschiedlicher Lebensmodelle lesen, als Spiel mit anderen Identitäten und als Selbstbefragung.

Die Porträts der 80er-Jahre wirken spontaner und scheinen wie beiläufig entstanden. Der gesellschaftliche und räumliche Zusammenhang und Hintergrund ist auf einen Ausschnitt reduziert, vor dem sich Individualität stärker entfalten kann. Doch fällt bei eingehender Betrachtung wieder eine Form von Unbehaustheit des Menschen in seiner gesellschaftlichen Umgebung auf. Michael Schmidt hat sich selbst einmal als "Sackgassen-Fotograf" bezeichnet. Über die reine Dokumentation von Zeitgeist, Mode und Milieu hinaus formulieren seine Menschenbilder die Sehnsucht, die Verhaltensmuster des umgebenden Milieus sprengen zu können.

Mit der Serie "Frauen" (1997-99) ist Michael Schmidt auf der diesjährigen Berlin Biennale vertreten. Die Modelle für diese Serie standen zum Teil bekleidet, zum Teil nackt vor seiner Kamera und versuchen dieser ohne ausdrücklichen Willen zur Inszenierung standzuhalten. Im Bewusstsein ihrer Ausgesetztheit wiederholen sie ein bestimmtes Repertoire an Posen und Haltungen: Sie stemmen die Arme in die Hüfte oder verschränken sie vor der Brust; sie schieben die Hände in die Taschen, wenden sich teilweise oder vollständig ab und geben nur den Blick auf einen Ausschnitt ihres Körpers frei. Dabei erklärt sich der Fotograf mit der Verwundbarkeit seines Modells, mit dessen Mangel an Übung und Gelöstheit solidarisch. Durch die fragmentarische Perspektive kann er individuelle Eigenheiten noch betonen und so den Abstand zum standardisierten Menschenbild aktueller Hochglanzmagazine neu vermessen.

Bei seinen Stadtlandschaften wählt Michael Schmidt oft Zwischenräume, die architektonisch nicht genau definiert sind, wie Baulücken oder Freiflächen. Die einzelnen Bilder informieren über den baulichen Zusammenhang nur begrenzt: Ein zentral platziertes Hindernis verstellt den Blick in die Tiefe des Raumes, oder eine leere Fläche bildet den Mittelpunkt. Die Laderampen, Parkplätze, Mauerstücke, Wellblechwände, Haushaltswarenläden, Kneipen mit Schultheiss-Werbeflächen und sogar die Kinderspielplätze, alles wirkt wie ortlose Zweckarchitektur.

Manche Serien wie beispielsweise "Berlin-Wedding" von 1978 wurden zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung als Dokumentation misslungener städtebaulicher Entwicklung verstanden - als habe Michael Schmidt die Trostlosigkeit von Mietskasernen anklagen wollen, "mit denen man den Menschen totschlagen kann wie mit einer Axt", so Heinrich Zilles über das "steinerne" Berlin. Aus heutiger Sicht formulieren die Bilder von Michael Schmidt keinen so eindeutigen Vorwurf, sondern die Frage: Welche Chance hat hier das Individuum? Wie sieht in einer solchen Stadtlandschaft ein gelungener Lebensentwurf aus? Die Räume, Flächen und herausgehobenen Details dieser Fotografien haben über die bloße Darstellung hinaus die Qualität abstrakter Malerei. Sie lassen auf den nach innen gewandten Blick eines Autors schließen, dem es über sachlich nüchterne Dokumentation hinaus um die Herausbildung eines unverkennbar eigenen Stils geht.

1996 präsentiert Michael Schmidt in einer Einzelausstellung im MoMA die Werkreihe "Einheit" (1991-1994). In diese Serie, eine Sammlung von 118 Einzelbildern über die deutsche Wiedervereinigung, nimmt er neben eigenen Bildern auch andere auf, die er in Zeitschriften, Zeitungen und Propagandamaterial gefunden hat. So verquickt er individuelle mit kollektiven Erinnerungen, vermischt Bilder aus Ost- mit Bildern aus Westberlin. Wieder wird durch den absichtsvollen Mangel an Informationen, die das einzelne Bild bereitstellt, eine eindeutige Zuordnung zu einem bestimmten Ort, Moment oder politischen System unmöglich. Zum Ornament aufgestellte Turnerinnen, Militärparaden, Fabrikarbeiterinnen, Porträts von Göring, Adenauer und Honecker, sie alle ergeben gemeinsam ein großes Fragezeichen: Ost und West, was war das eigentlich? Die Zeichenhaftigkeit politischer Systeme und deren Bild vom Menschen scheint universal einheitlich.

Zu "89/90" erscheint im Snoeck Verlag ein Künstlerbuch mit einem Text von Chris Dercon (dt./engl.); 104 Seiten, 18,3 x 22,1cm, mit 48 abgebildeten Fotografien, 39,80.-, ISBN 978-3-940953-43-8

Michael Schmidt - Grau als Farbe
Fotografien bis 2009
21. Mai bis 22. August 2010