Grad der Gewissheit

Mit ihren Skulpturen, videographischen Arbeiten und Installationen thematisiert Alicja Kwade ökonomische, wissenschaftliche und soziokulturelle Systeme und deren unsichere Beschaffenheit: Die Künstlerin verfolgt zum Beispiel die Bewegung des Geldes auf Finanzmärkten, die auf Wahrscheinlichkeiten und Prognosen basiert und stets ein Maß an Risikobereitschaft birgt. Sie reflektiert ebenso das Phänomen Zeit als elementare Konstante, die nur in wechselnden Relationen zu verstehen ist.

Das Werk von Alicja Kwade entspricht dabei selbst einem offenen System: Durch Verwandlung, Spiegelung, Doppelung und Vervielfältigung von Materialien und Gegenständen entwickelt sie realistische Fiktionen, die erstaunen, verwundern und Fragen in Hinblick auf Funktionszusammenhänge und Wertvorstellungen aufwerfen. Motive wie Uhr, Spiegel, Stein, Lampe, Licht, Materialflächen und (Porzellan-)Figuren kehren in ihren Installationen immer wieder. Sie bringen ihre eigene Zeitlichkeit mit und entsprechen zugleich einer traditionsreichen, kunsthistorischen Ikonographie.

Für das Museum Haus Esters hat Alicja Kwade ein weiteres System mit vertrauten wie auch neuen Objekten entwickelt: Die Wahrnehmung und Vorstellung von Zeit, von ökonomischen Prozessen und deren Werteproduktion wie auch von kosmologischen Zusammenhängen bilden den roten Faden, der die Objekte in der Ausstellung untereinander und mit dem Ort verbindet. Eine Gruppe von kauernden Mädchen, Porzellanfiguren von Ernst Wenck aus den 1920er Jahren, trinkt pures Gold aus den hohlen Händen (Dionysos Offers, 2013); fünf Kaiser Idell-Lampen, vom Bauhaus-Designer Christian Dell in den 1930er Jahren entworfen, neigen sich würdevoll zum Boden (Trusters (2), 2013). Die Vervielfältigung und Staffelung ein und derselben Lampe erinnert an filmische Sequenzen und ermöglicht auf diese Weise eine Vorstellung von Zeit am statischen Objekt. Die Bodenarbeit 15.02.13 aus dem Jahr 2013, die in ihrer formalen Strenge an die Kunst der Minimalisten denken lässt, besteht aus acht Industriemetallen: Gold, Silber, Blei, Zink, Kupfer, Aluminium, Nickel und Zinn. Diese Arbeit macht ein abstraktes, flexibles Werteverhältnis wahrnehmbar: Der Wert einer Unze Gold, wie er am 15. Februar 2013 an der Börse dotiert war, im Verhältnis zu den anderen sieben Metallen.

Mit einer spektakulären Außenarbeit setzt Alicja Kwade zudem die Krefelder Tradition der ortsspezifischen Installationen fort. Ein Strom von 1410 Steinen rollt vom hinteren Ende des Gartens auf das Gebäude zu und dringt in den Hauskörper ein. Die Findlinge, von denen die größten rund drei Tonnen wiegen, werden zum Haus hin immer kleiner. Ihre Zahl entspricht den 1410 Asteroiden, die in der Nähe der Erde kreisen und von der NASA als gefährlich eingestuft wurden. Die Einschätzung der Asteroiden erfolgt auf der Berechnung ihrer Flugbahnen. Da sich durch unvorhersehbare Ereignisse die Bewegung der Asteroiden verändern kann, wird die Zahl wie auch die Wahrscheinlichkeit eines Zusammenstoßes mit der Erde immer wieder aktualisiert. Diese ortsspezifische Installation führt machtvoll ein Gesellschaftsspiel vor Augen, das auf Unsicherheit und Wahrscheinlichkeit, die Sicherheit verspricht, basiert.

Der Dialog zwischen Architektur und Natur, den Ludwig Mies van der Rohe mit der Transparenz des Hauses Esters Ende der 1920er Jahre angelegt hat, erfährt durch die Arbeit von Alicja Kwade eine (vermeintlich) katastrophische Wendung.

Alicja Kwade - Grad der Gewissheit
29. September 2013 bis 16. Februar 2014
Museum Haus Esters