Im Zuge der rasanten Globalisierung gewannen bzw. gewinnen der Identitäts- als auch Heimatbegriff neue Bedeutungen, ähnlich wie jene der Nation und Integration. Besonders im Sprachlichen, Literarischen wird oft die Metapher bemüht, wonach die Muttersprache die Heimat sei und bleibe, besonders dann, wenn die Person, der Sprecher, als Fremder in der Fremde lebt. Dabei zeige der Globalisierungstrend ein Positivum, weil damit die Literatur entterritorialisiert und entnationalisiert werde. Das Fänomen des Fremden habe sich verändert.
Ich kann so einer Sicht nicht voll beipflichten, sie ist mir zu eindimensional, zu simpel. Erstens beobachte ich besorgt die Zunahme chauvinistischer Nationalismen gerade in peripheren Nationen oder Gesellschaften, meist als Ersatz für beschädigte oder geschwächte bzw. zu schwach entwickelte Identitäten. Zweitens war die Sprache immer schon Heimat, lange bevor es den Begriff "Globalisierung" in unserem Verständnis gab. Drittens verbürgt auch ein Leben in der Kultur und Gesellschaft der Muttersprache nicht, dass man nicht fremd wäre in vielen Aspekten oder fremd wird, weil eben Sprache, Identität und Gesellschaft sich auch unter günstigsten Bedingungen nicht völlig decken. Weiters darf nicht vergessen werden, dass zwischen kollektiven Identitäten und persönlichen ein wesentlicher Unterschied besteht.
Mir scheint vielmehr, dass mit dem Begriff "fremd" und "Fremde" zu inflationär in falsch-simplen Sinne umgegangen wird. Meist ist er auch einseitig negativ konnotiert, als ob es sich um etwas Krankes oder Sündiges handle. Aber Fremdheit, Fremdsein, Fremde und fremden sind ganz natürlich-kultürliche Eigenschaften, die nicht per se negativ oder positiv sind, sondern immer, wie mit allem, entsprechend einer Konstellation und einem Verhältnis.
Mir dünkt auch, dass das bemühte Gerede über Globalisierung und Fremde ein chices Opferdenken begünstigt und die Leistung des Opfers, das sich trotz der Fremde durchschlägt, überhöht. Zudem werden alle jene Aspekte, die auch in der heimischen Kultur und Gesellschaft als Fremdes sich auftun können, wenn man nur wach, sensibel und offen genug ist, überdeckt.
Je höher gebildet jemand in seiner Sprache denkt, spricht und handelt, desto eher und öfter wird er mit Fremden im Eigenen konfrontiert. Die Energieaufwendungen, um der Banalität des Fremden in der Heimkultur entgegenzuwirken oder so zu überwinden, ist enorm hoch; vielleicht wird sie von den meisten deshalb unterschlagen, indem man so tut als-ob. Aber die heimische Realität ist keine eindimensionale, ausser man selbst ist eindimensional. Die Sprachprobleme tun sich nur für die Befähigsten, Sensibelsten auf, lange bevor sie für jene sich zeigen, die als äussere Fremde von draussen hereinkamen und sich hier heimisch machen wollen. Das eine lässt sich gegen das andere nicht ausspielen und soll auch weder auf- noch abgewertet werden.
Meine Vorsicht oder mein Verdacht richtet sich gegen die bequeme Teilung und Mythenetablierung von Identität, Eigenheit und Fremdheit. Keine Identität ist als Indogenes einfach existent; jede Identität ist ein Resultat, ein Produkt eines Prozesses, in welchem die Aussenwelt als wesentlicher Sozialisationsfaktor mitgewirkt hat. Erst ab einem gewissen Stadium wird es der oder dem Sozialisierten, und damit zur Identität Befähigten, möglich, die erworbene, gewonnene Identität zu formen, weiterzubilden, zu verändern, zu wechseln.
Die Reduktionen auf Sprache, Kultur und Nationen, auf Mutterland oder Fremde werden leicht falsch, weil borniert, also "beschränkt" in ihrer Simplifikation. Was ist denn für eine Person das Eigene? Wie weit lässt es sich kommunizieren? Wie sollen die Identitäten bewertet und unterschieden werden, die unterschiedliche Gesellschaftsmitglieder in einer gegebenen Gesellschaft erwerben? Früher sprach man besonders von Klassenunterschieden, heute von Minderheiten. Das verengt den Blick. Es existieren immer noch Klassen und Unterschiede. Aber auch innerhalb von "Klassen" oder definierten Sozialstrata lassen sich höchst ungleiche Identitätsbildungen feststellen. Welche sollen Vorrang haben? Die kollektiven oder die individuellen? Mit welcher Begründung?
Sprache ist Gemeingut und wäre als Einzelsystem und –leistung nicht kommunikativ. Der wahre und extreme Solipsist wäre wie der Idiot tatsächlich in sich, in seinem Idiolekt gefangen. Aber der Kommunikationsfähige ist es nicht per se aufgrund gewisser kollektiver Identitäten, auch nicht umgekehrt primär "nur" individueller. Es ist ein Zusammenwirken.
Ich fand die Dimension des Nationalen schon früher als wenig erklärend für Literatur. Der Austausch mit der Dimension "globalisierte Welt" erscheint mir noch dürftiger. Die Differenzierung der Kulturen könnte hilfreich sein, wenn sie nicht so leicht missbraucht würde in Auf- und Abwertungen, in Chauvinismen. Das alles ist eigentlich Geschäft für Halbgebildete, Handlanger, Helfershelfer und Kollaborateure. Kultivierte, Gebildete finden Komplexitäten und Reichtümer gerade in Unterschieden und in Vielheiten, die nicht in einem bemühten Globalisierungsprozess eingeebnet und standardisiert werden müssen: weder, um die gefährliche Fremdheit zu konvertieren, noch um unliebsame zu stigmatisieren.
Klar, dass soziale, gesellschaftliche Faktoren auf Sprache und Literatur einwirken bzw. durch sie auch Ausdruck erfahren. So what? Das ist weder neu, noch befremdlich. Aber wenn man als Heimischer im Heimischen erst einmal den befremdlichen Abyssus erspäht hat, schwindet die Illusion, im Eigenen wäre das versprochene Paradiesische, im Fremden das Barbarische. Es liegt überall, wo der Blick unter die dünne Firniss der herrschenden Kultur dringt. Hier wie dort. Daheim wie in der Fremde.