Gierig auf Gier

Als einer der Gründe für die gegenwärtige heftige Krise in Europa und den USA wird die Gier, wie sie im "Abzocken" deutlich Ausdruck findet, genannt. Was hat es mit der Gier auf sich? Gier bedeutet Verlangen, Begehren, Begierde. Ohne die Antriebe des Begehrens oder Verlangens wäre keine Veränderung, keine Entwicklung, keine Innovation möglich. Es muss einen treiben, um über das Gegebene, das Bestehende hinaus zu gelangen.

Ist auch Neugier eine Gier? Neugier, das Bedürfnis nach Erkennen und Wissen, ist die Erbsünde, zumindest für Christen. Trotzdem wurde gerade in der christlich geprägten Kultur das wissenschaftliche Denken, das ohne Neugier nicht möglich wäre, zur Perfektion gebracht.

Offensichtlich gibt es Abstufungen, verschiedene Grade von Gier. Begehren, Begierde, Verlangen und Neugier sind nicht dasselbe. Zudem hängt es von der Dosierung ab, wie bei allem. Und von den Kontextfaktoren. Es wirken viele Faktoren ein, wann Gier kontraproduktiv oder schädlich wird, für den Einzelnen, für die Gesellschaft.

Gier wird oft mit Sucht verbunden. In unserer Gesellschaft leben viele Süchtige. Einige Süchte werden als besonders schädlich gesehen, weil sie den Süchtigen (Abhängigen) offensichtlich, sofort spürbar, zerstören, körperlich und seelisch (Alkohol, Nikotin, Rauschmittel, Völlerei), andere werden gelobt und gefördert: Arbeitswille, hohe Produktivität, Profitstreben. Die negativen Auswirkungen werden, außer in Extremfällen, nicht direkt dem Süchtigen zugeschrieben, sondern als Nebenwirkungen, Begleiterscheinungen (Kollateralschäden) hingenommen. Die Ergebnisse (Profite) stellen alles in den Schatten, z. B. auch zerrüttete Beziehungen, Familien, Seelen. Der Burn out wird meist immer noch als persönliche Schwäche abgetan.

In einigen wichtigen Bereichen, den wichtigsten eigentlich, ist man sich über die Gier weniger klar. Wo es um Macht geht, um Einfluss. Um Sieg. Um Geld, denn das prominente Mittel für Macht ist Geld. Also auch, wo es um Geld geht. Die Machtgier wird meist gefiltert als "Streben" nach Macht als Mittel zur Durchsetzung von etwas Anderem gesehen. Die Profitgier als vernünftiges, zielgerichtetes Gewinnstreben hingestellt. Denn beide bilden die unabdingbaren Antriebskräfte für unsere Wirtschaft, unsere Gesellschaft und ihre Politik. Das kapitalistische Modell hat sich als siegreich erwiesen. Alle Nebenwirkungen wiegen nicht, verblassen gegenüber den Gewinnen. Aber von welchen Gewinnen reden wir?

Was könnte ein wichtiger Unterschied zwischen einem Begehren und einer Gier sein? Dass man trotz des gemeinsamen Untergrundes dem Einen eine Sättigungs-, Befriedigungsmöglichkeit zuerkennt, dem Anderen nicht. Man kann nur soviel fressen, saufen und ficken, und nicht mehr. Der Körper macht nicht mit. Man wird gesättigt, ermattet, ermüdet, braucht eine Phase der Regeneration. Das schafft natürliche Grenzen. Arm jener, der das Glücksgefühl der Stillung und Sättigung nicht erleben, erfahren kann: er bleibt unbefriedigt. Er erkrankt an der Nichtbefriedigung: I can"t get no satisfaction. Das wirkt sich aus, psychosomatisch, mental, sozial.

Aber alle jene Bereiche, die "offen" scheinen, kennen keine solchen natürlichen Grenzen, die bei Überschreitungen sofort Auswirkungen zeigen. Dort, wo es um Geld geht und um Macht, scheint die grenzenlose Gier unersättlich. Diese Unersättlichkeit führt nicht zur Erkenntnis der Vergeblichkeit, der letztendlichen Unerfüllbarkeit, sondern, im Gegenteil, zu fanatisch extremen Anstrengungen der Steigerung: Noch mehr Geld, noch mehr Macht. Es ist, als ob der infantile Wunsch nach Unsterblichkeit sich im Diesseits in kranker Manier durchsetzen will: Es gibt keine Grenzen, es geht immerfort vorwärts. Es gibt ein unstillbares Mehr. In dieses Meer des grenzenlosen Weiten von Macht und Geld stürzen sich die Profiteure, die Machtgierigen, die Unmenschen eben, denen das menschliche Maß abhanden kam.

Das ist nicht neu. In allen Kulturen und Religionen wurde und wird dieses Phänomen gekannt. Aber in der Gegenwart haben sich durch gewisse technische Bedingungen die Auswirkungen dramatisch geändert. Das Umkippen von Quantität in Qualität in extrem kürzerer Zeit, nicht mehr regional beschränkt, sondern global sich ereignend, produziert andere Ergebnisse, verändert die Systeme nachhaltiger als früher.

Die Antwort ist nicht in einem "zurück zur Natur" zu suchen und zu finden. In der Vergangenheit haben die Versuche der Angstbewegungen nicht getaugt (der Faschismus war eine Angstreaktion auf die Moderne, der gegenwärtige Islam ist eine Angstneurose ähnlicher Art). Anstatt Esoterik, neue Mythenbeschwörung, Blut & Boden, brauchen wir noch mehr Aufklärung. Aber ein aufgeklärtes Wissen, das praktisch umgesetzt wird. Freiheit bedeutet Wahlmöglichkeit. Wir haben die Wahl, auch wenn viele wünschten, höhere Kräfte, Götter oder Gott, möge lenken und bestimmen.