Georg Baselitz - Damals, dazwischen und heute

Seit 2008 hat das Haus der Kunst monografische Überblicksausstellungen wichtiger zeitgenössischer Künstler organisiert und dabei jeweils spezifische Aspekte in deren Arbeit und Entwicklung hervorgehoben. Beispiele für solche Ausstellungen sind "Travelling "70-"76" mit vielen, selten gezeigten Arbeiten aus Pappe und Stoff von Robert Rauschenberg, Gerhard Richters "Abstrakte Bilder", die diese wichtige Werkgruppe zum ersten Mal unabhängig präsentierte, sowie die Ellsworth-Kelly-Retrospektive "Schwarz & Weiß".

Im Herbst 2014 wird das Haus der Kunst diese Reihe mit einer umfassenden Einzelausstellung von Georg Baselitz fortsetzen, die Arbeiten aus fünfzig Jahren einer eingehenden Analyse unterzieht. Im Mittelpunkt stehen wiederkehrende Motive und Themen wie die Figur und der Adler, die Doppelfigur sowie das Porträt, die für Baselitz" künstlerische Entwicklung wesentlich waren: die neueren Werkgruppen der "Schwarzen Bilder" sowie der monumentalen Bronzeskulpturen, deren formalen und thematischen Ursprüngen im früheren Werk nachgegangen wird.

In den "Schwarzen Bildern" hat Baselitz seine Bildsprache weiter radikalisiert: Ziel ist die Eliminierung jedes sichtbaren Kontrasts. Dabei erlangt er eine nahezu schlafwandlerische Meisterschaft über sein Material. Sein fließender, kreisender Pinselstrich übt einen Magnetismus aus, in dessen Kraftfeld das Motiv völlig mit dem Hintergrund verschmilzt. Die eruptive Qualität seiner Malerei ist noch vorhanden, doch nun scheint sie auf magische Weise besänftigt, als sei sie von einer Membran bedeckt. Vehemenz wird zu Ruhe; doch verdrängt diese Ruhe keinesfalls die Erregung, sondern verfeinert sie. Die Arbeiten, die mit Ausnahme zweier querformatiger Bilder alle im identischen Hochformat ausgeführt sind, variieren das Adlermotiv auf subtile Weise, sodass seine Erkennungsmerkmale fast, aber nicht völlig verschleiert sind. Obwohl das Motiv in lichtschluckende Dunkelheit gehüllt ist, sind die Gemälde keinesfalls farblos. Das kopfstehende Bild eines fliegenden Adlers ist vielmehr in einer Klangfülle aus dunklen Farbtönen von Blau, Braun und Grau bis hin zu Schwarz ausgeführt.

In den monumentalen, seit 2011 entstandenen Bronzeskulpturen zeigen sich formale und inhaltliche Rückbezüge, die neben figurativen Referenzen zugleich die bildnerische Funktion der bildlichen wie der fotografischen Umkehrung relativieren. Die ausnahmslos schwarz patinierten Skulpturen erscheinen genauso "verdunkelt" wie die zeitgleich gemalten "Schwarzen Bilder". Gegenständliche Motive aus Baselitz" Gemälden kehren auch in den Skulpturen wieder; sie stellen kunsthistorische und biografische Bezüge her. Eine besonders plastische Verbindung stellt die "BDM Gruppe" (2012) her, die ikonografische Anspielungen mit persönlichen Themen vereint. Der Bedeutungsraum der drei Figuren ist von Erinnerungen des Künstlers überlagert, wobei die Tradition der "drei Grazien" im Verhältnis dazu beinahe umgekehrt erscheint. Die Figurengruppe geht auf Baselitz" Erinnerungen an seine Schwester zurück, die Mitglied des BDM (Bund Deutscher Mädel) war, des weiblichen Zweigs der Hitlerjugend.

Demgegenüber ist die Figurengruppe "Sing Sang Zero" (2011) auf Anhieb als Doppelporträt von Elke und Georg Baselitz zu erkennen, da die untergehakten Arme hier unmittelbar als vertraute Geste wahrgenommen werden. Die jüngste Bronzeskulptur, "Zero Ende" (2014), verbindet zwei Totenschädel zu einer Art Hantel, die von sieben Ringen umgeben ist: ein Symbol für die Verbindung zweier Lebenswege. Die Ausstellung erkundet mithin die spezifischen Themen, die in den "Schwarzen Bildern" und Bronzeskulpturen bearbeitet wurden. Das Hauptgewicht liegt dabei auf der Frage, aufgrund welcher bildnerischer Überlegungen und Interessen – wie auch immer diese entstanden sind – Baselitz sich entschließt, einen Gegenstand wieder aufzugreifen, den er Jahre oder sogar Jahrzehnte früher schon einmal bearbeitet hat. Bei einer Wiederaufnahme werden die Motive von Baselitz auf der Grundlage seiner Werkentwicklung durchdekliniert. Das heißt, das Motiv wird nicht nur einer Neubetrachtung unterzogen, sondern aus vielfachen Perspektiven neu ergründet.

Gemälde aus den Jahren 1965 bis 1977 lassen bereits zentrale Gegenstände erkennen, die in Baselitz" weiterer Laufbahn eine fundamentale Rolle spielten und auf die er immer wieder zurückkam. "Die großen Freunde" von 1965 gewinnen im Kontext der Helden- Gemälde und innerhalb von Baselitz" Gesamtwerk eine ikonische Bedeutung; "Porträt Elke I" (1969) ist das erste Bildnis seiner Frau, während "Schlafzimmer" (1975) das Ehepaar in einem intimen Augenblick nackt zeigt. In "Fingermalerei-Adler" (1972) taucht das Adlermotiv zum ersten Mal auf. Baselitz" Vorliebe für dieses Motiv ist immer bestehen geblieben und prägt noch seine jüngeren Werke. Kein anderes Tiermotiv innerhalb seiner Ikonografie wurde öfter und facettenreicher behandelt.

2005 begann Baselitz an seiner "Remix"-Serie zu arbeiten, welche diese Schlüsselmotive aufgreift. Die Bilder vollführen einen Zeitsprung zum Ende des letzten Jahrzehnts. Baselitz zitiert hier einerseits auf paradigmatische Weise aus den Helden-Arbeiten, andererseits ist die Entwicklung seiner bildnerischen Methode einer Beschleunigung formaler Ressourcen unterworfen, die einen völlig neuen Zugang zu früheren Themen erlaubt. "Vorwärts Wind" wird in einer relativ analogen Weise aufgegriffen. Wieder wird eine Person vor einem nackten Baumstumpf dargestellt, wobei die bildnerische Struktur aufgelöst und die bleiche Farbgebung durch die roten Epauletten und die fleischigen rosa Hände und Genitalien akzentuiert ist. Im Gegensatz dazu sind "Moderner Maler" und "Schwarz" in den Remix-Versionen mit Hakenkreuz-Motiven im Stil von Piet Mondrian kombiniert, wobei die ikonische Bedeutung dieses Motivs in der modernen Kunst in gewisser Weise seinen ideologischen Missbrauch durch die Nazis quasi "kompensiert".

Auch diese Kompositionen sind paradigmatisch für eine inhaltliche "Ausleerung" des Gegenstands zugunsten eines abstrakten Formbegriffs als autonome Bildfunktion. Die Spontaneität und Entspanntheit dieser Arbeiten erlaubten Baselitz eine unprätentiöse Revision seines malerischen Vokabulars und seiner eigenen Geschichte. Gleichzeitig entfesselt Baselitz Erinnerungen, welche die Zeiten seines eigenen Zwiespalts zwischen Ost und West heraufbeschwören, eine Zeit ideologischer und künstlerischer Kämpfe. Baselitz hat nie einen Hehl daraus gemacht, dass ihn in den späten 1950er-Jahren die Gemälde von de Kooning tief beeindruckt hatten, besonders die kraftvolle, ausdrucksstarke Persiflage auf das Diktat des zeitgenössischen Schönheitsideals von "Woman I" (1950-52), das er 1958 in einer Ausstellung der Hochschule für Bildende Künste in Berlin gesehen hatte (wo es u.a. mit Jackson Pollocks "Number 12" (1952) gezeigt wurde).

In der Serie von Arbeiten, die als Negativ-Bilder bezeichnet werden, kehrt Baselitz nicht nur den Gegenstand um, sondern auch die Farbwerte. Diese Darstellung als fotografisches Negativ führt zu einer zusätzlichen Umkehrung des Bildes in Bezug auf die "natürliche" Wahrnehmung seines Motivs. Die schwarzweißen Negativ- Bilder steigern den Grad der Abstraktion bereits in dreierlei Hinsicht. Damals hatte Baselitz das Potential der Entfremdung der äußeren Erscheinungsform des Gegenstands und die Möglichkeiten seiner bildnerischen Repräsentation fast schon ausgeschöpft. Das Selbstporträt "Zero" (2004) zeigt eine schlichte, unprätentiöse Ansicht, die in starken, ruhigen Pinselstrichen in einer Mischung differenzierter Grauwerte umgesetzt ist. Mit der formal analogen Arbeit "Negativ weiter links" (2004) hat sich Baselitz wieder "Elke I" zugewandt. Denselben fotografischen Prototypen variiert er in "Elke negativ blau" (2012), das die Charakteristika der schwarzweißen Version noch prägnanter zur Geltung bringt.

Georg Baselitz (Hans-Georg Kern) wurde 1938 in Deutschbaselitz bei Dresden geboren und wuchs in der DDR auf. Nachdem er wegen "gesellschaftlicher Unreife" von der Kunstakademie Ostberlin suspendiert wurde, bewarb er sich an der Westberliner Akademie. 1958 zog er nach Westberlin und schloss 1962 dort sein Studium ab. In dieser Zeit legte er sich nach seinem Geburtsort den Namen Baselitz zu. Bei seiner Suche nach Alternativen zu dem ideologisch aufgeladenenAntagonismus zwischen sozialistischem Realismus und Abstraktion begann er sich für Kunst außerhalb des Mainstreams zu interessieren, für Art Brut (Jean Dubuffet) und Outsider art. Weiterhin war er von existentialistischer Kunst (Fautrier) und Literatur (Beckett, Ionesco, Artaud), von Dada (Schwitters, Picabia) sowie von Friedrich Nietzsche und Gottfried Benn beeinflusst.

Nachdem seine erste Einzelausstellung in der Galerie Werner & Katz in Berlin 1963 zu einem kalkulierten Skandal geführt hatte, begann er an einer Serie von Gemälden monumentaler Männerfiguren zu arbeiten, die als Helden-Bilder bekannt wurden. Inspiriert waren diese Gemälde vom italienischen Manierismus, mit dem er sich bei einem Stipendienaufenthalt in Florenz 1965 befasst hatte. Die folgende Serie der sogenannten Frakturbilder führte Ende der 1960er-Jahre zu einem großen Interesse an Wäldern und Bäumen. 1969 malte er "Der Wald auf dem Kopf", sein erstes auf dem Kopf stehendes Bild. Hier wollte er die Aufmerksamkeit des Betrachters allein auf malerische Anstrengung und Leistung lenken. Vom Ende der 1970er-Jahre datieren monumentale Holzskulpturen von Köpfen und Figuren. Baselitz" internationale Bekanntheit nahm zu, er war zunehmend in großen Museen und bei wichtigen Gruppenausstellungen vertreten.


Der durchgehend illustrierte Katalog erscheint bei Prestel. Enthalten sind Texte von Georg Baselitz, Katy Siegel, Eric Darragon, Michael Semff und Ulrich Wilmes sowie ein Gespräch zwischen Georg Baselitz und Okwui Enwezor.

Georg Baselitz - Damals, dazwischen und heute
19. September 2014 bis 1. Februar 2015