Genossin Sonne

"Genossin Sonne" ist eine Ausstellung, die das Politische mit dem Poetischen verbindet, um lustvolle, spekulative Assoziationen über die Zusammenhänge zwischen dem Revolutionären, dem Himmlischen, der zeitgenössischen Kunst und ihren Einflüssen auf unseren Alltag anzufachen: ein immersives Szenario, dessen zeitliche Abläufe Momente der Ruhe und des Nachdenkens zulassen und das sich als Kritik, aber auch als Optimismus, Freude und Hoffnung für die Zukunft manifestiert.

Die essayistische Gruppenausstellung "Genossin Sonne" widmet sich künstlerischen Arbeiten und Theorien, die imaginieren, dass kosmische Zusammenhänge, beziehungsweise die Re-Konstruktion von Kosmologien Teil politischer Kämpfe sind, und geht verschiedenen, mit dieser Idee verknüpften Geschichten, Theorien, Schriften und Poetiken nach. Gibt es etwa, wie sowjetische Kosmisten behaupteten, einen Zusammenhang zwischen erhöhter solarer Aktivität (einer Zunahme der Sonnenflecken und -winde) und irdischen Revolutionen? Und welche spekulativen, lustvollen Überlegungen finden sich dazu in der zeitgenössischen Kunst und Poesie?

In der Ausstellung in der Kunsthalle Wien liegt ein Schwerpunkt auf dem Bewegtbild – auf Kino, Film und Video als Medien des Lichts. Aber auch in anderen Medien strahlen die Arbeiten hypnotische, fiebrige, glühende, drohende Affekte aus. Die Sonne fungiert einerseits als Lebens- und Energiespenderin für politische Kämpfe und andererseits als mahnende Figur, deren schiere Masse und Lebensdauer die Kürze menschlichen Lebens auf dem Planeten Erde deutlich macht.

"Genossin Sonne" – der Titel der Ausstellung irritiert. Wie kann die Sonne, das zentrale Gestirn unseres Sonnensystems, eine Genossin sein? Und in welchem Kampf ist sie das, in welcher revolutionären Bewegung? Kann die Sonne ein revolutionäres Subjekt sein? Und was hat die Revolution mit dem Kosmos zu tun?

Bevor der Begriff "Revolution" unter dem Eindruck der haitianischen und karibischen, der französischen und nordamerikanischen Revolutionen am Ende des 18. Jahrhunderts einen "gewaltsamen Umsturz der bestehenden politischen oder sozialen Ordnung" bezeichnete, wurde er in der Astronomie zur Bezeichnung der Umdrehung der Himmelskörper verwendet. Erst danach erhielt der Begriff die Bedeutung des gesellschaftlichen und politischen Handelns.

In der Folge nahmen sich der Kapitalismus und die Industrialisierung der radikalen ‚Emanzipation‘ des Menschen von seiner Umwelt an – weg von einem Verhältnis des Miteinander, hin zu einem der Extraktion. Die Natur wurde nun zu einem (feindlichen) Gegenüber, dessen Rohstoffe man rücksichtslos ausbeuten konnte. Angesichts der Klimakatastrophe beginnt jedoch heute eine Rückbesinnung darauf, dass der Mensch Teil seiner Umwelt ist. Die Ausstellung "Genossin Sonne" geht noch einen Schritt weiter und stellt eine spielerische Spekulation an: Dass die Sonne unsere Genossin, unsere Verbündete sei.

Für den sowjetischen Forscher Alexander L. Chizhevsky (1897-1964) war sie das längst. Chizhevsky war ein interdisziplinärer Wissenschaftler, Kosmist und Biophysiker, der maßgeblich die Forschungsrichtung der Heliobiologie begründete und Effekte der Luft-Ionisierung studierte. Erstere untersucht den Einfluss der Sonne auf die Biosphäre, letztere interessiert sich für die Auswirkungen der Ionisierung der Luft auf biologische Einheiten. Chizhevsky entdeckte nicht nur, dass sich durch Sonnenaktivitäten hervorgerufene geomagnetische Stürme auf die Funktionsfähigkeit elektrischer Anlagen auswirken und zum Beispiel Flugzeugabstürze und Heuschreckenepidemien hervorrufen können. Er war auch überzeugt davon, dass eine erhöhte negative Ionisierung der Atmosphäre zu erhöhter "Massenerregbarkeit" führen würde. Die Geschichte werde laut Chizhevsky maßgeblich von dem elfjährigen Zyklus der Sonnenfleckenaktivitäten beeinflusst, der Menschen dazu bringe, aufzubegehren – durch Revolten, Revolutionen und Bürgerkriege. Chizhevsky machte in den 1920er- und 1930er-Jahren eine steile Karriere in der sowjetischen Wissenschaft. 1942 wurde jedoch Josef Stalin auf Chizhevskys Forschungen aufmerksam, einschließlich seines grundlegenden Werkes über die "physikalischen Faktoren des historischen Prozesses" (1924). Chizhevsky wurde aufgefordert, seine Theorien zu den Sonnenzyklen zu widerrufen, die den sowjetischen Geschichtstheorien über die Revolutionen von 1905 und 1917 widersprachen. Er weigerte sich, wurde daraufhin verhaftet und musste acht Jahre in einem Arbeitslager (Gulag) im Ural verbringen. 1950 kam er frei, siedelte sich in Karaganda (im heutigen Kasachstan) an und musste dort weitere acht Jahre sowjetischer "Rehabilitierung" durchlaufen.

Mehrere Arbeiten in der Ausstellung versetzen uns in Hypnose oder Trance. So die farbenfrohen Videos (u.a. The Sun Quartet) des mexikanischen Colectivo Los Ingrávidos, die durch die Ausstellung verteilt sind, das ganz in schwarz-weiß gehaltene Science-Fiction-Video 2026 der ägyptischen Künstlerin Maha Maamoun oder die Videoarbeit "The Communist Revolution was Caused by the Sun" des russischen Künstlers Anton Vidokle.

The Otolith Group wiederum nimmt uns in ihrem Videoessay "In the Year of the Quiet Sun" mit in die Zeit zwischen November 1964 und November 1965. In diesem Jahr brachten viele Staaten Briefmarken heraus, die die erste wissenschaftliche Expedition zur Sonne adressierten. Der Blick in den Himmel koinzidierte mit (und verstellte gleichzeitig die Sicht auf die) zeitgleich stattfindenden Unabhängigkeitsbewegungen in Afrika.

Wolfgang Mattheuers fast surreale Gemälde "Der Nachbar, der will fliegen" und "Die Sonnenstraße" künden von der Macht, die die Sonne auf den Menschen ausübt: Dass es gerade der Nachbar ist, der aufbegehrt, dem quasi Flügel wachsen, verweist auch darauf, dass man Revolutionen nie allein, sondern immer gemeinsam mit anderen macht. "The Atlas Group" dokumentiert in ihrem poetisch-spekulativen "Video I only wish that I could weep" einen bemerkenswerten Fall, der sich so angeblich in Beirut zugetragen hat: Ein Agent, der eigentlich die Passant:innen an der Corniche beobachten soll, driftet mit seiner VHS-Videokamera wieder und wieder ab, hin zum spektakulären Sonnenuntergang über dem Meer.

Und bei drei Positionen in der Ausstellung ist es quasi die Sonne selbst, die malt: In Hajra Waheeds Papierarbeit "How Long Does It Take Moonlight to Reach us? Just over one second. And Sunlight? Eight Minutes." stellen unterschiedlich stark von der Sonne nachgedunkelte Papiere wiederum eine stark abstrahierte Sonne dar. Kerstin Brätsch greift in ihren lichtdurchlässigen Glasarbeiten und -objekten wie auch in ihren "Para Psychic-Zeichnungen" auf traditionelle, zum Teil in Vergessenheit geratene kunsthandwerkliche Verfahren zurück, um die metaphysischen und animistischen Qualitäten von Malerei auf humorvolle Weise freizulegen. Die "witnesses" von Kobby Adi schließlich speichern das Sonnenlicht und geben es in der Dunkelheit wieder ab. In der neu entstehenden "Vienna Light Study" wird darüber hinaus täglich die Lichtqualität in Wien dokumentiert – über den gesamten Ausstellungszeitraum hinweg.

Gwenola Wagon und Suzanne Treister erzählen uns fantastische Geschichten: "In Wagons Video Chroniques du Soleil Noir" ist es in der Zukunft auf der Erde so heiß geworden, dass die Menschheit die Sonne komplett abblocken muss, um zu überleben. Mit Hilfe einer KI versucht sie sich an Bilder der Sonne zu erinnern … Treisters spekulative Serie "The Escapist BHST (Black Hole Spacetime)" erforscht imaginäre Szenarien der technisch-menschlichen Evolution über große kosmologische Zeiträume hinweg, während "Alchemy/The Sun" (wieder nicht unironisch) die revolutionäre Kraft der Sonne in den Titelblättern der britischen Boulevardzeitung The Sun lokalisiert.

Schließlich zieht sich mit Sonia Leimers "Space Junk" eine breite Spur von Weltraumschrott durch die Ausstellung. Marina Pinsky erinnert uns mit ihrer Skulptur "July 15th, 2015" daran, dass Revolutionen die Tendenz haben, neue Zeitrechnungen und Kalender aufzustellen (nämlich in diesem Fall einen Tag nach dem 14. Juli, dem Tag der Französischen Revolution). Katharina Sieverding monumentales Video "Die Sonne um Mitternacht schauen (RED), SDO/NASA" wird als einzige Arbeit auf die Außenwand des Ausstellungsraums projiziert, wodurch sie ein Loch in das von der Ausstellungsarchitektur angedeutete, begehbare Science-Fiction-Diorama reißt. Diese an das Computerspiel Minecraft erinnernde blockartige Ästhetik verweist darauf, dass Revolution ein offener, kollektiver Prozess ist, an dem immer weiter gebaut wird. Genossin Sonne dehnt sich auch auf den Außenraum jenseits der Kunsthalle Wien aus: So zeigt Huda Takriti eine Arbeit in der Brunnenpassage und Nicholas Grafia & Mikołaj Sobczak präsentieren eine Performance im öffentlichen Raum.

Genossin Sonne
Bis 1. September 2024