Gedanken aus der Neuen Welt

Antonín Dvořák kam 1892 nach Amerika, das heißt, nach den Vereinigten Staaten, komponierte dort seine berühmtest gewordene 9. Symphonie „Aus der neuen Welt“ (op. 95), die 1893 in New York uraufgeführt und gefeiert wurde; die europäische Erstaufführung fand 1894 in Karlsbad statt. Alle Welt feierte ihn, den erfolgreichen Europäer aus der Neuen Welt. 1904 verstarb Dvořák.

Ein Österreicher, der nie in Amerika war, schrieb ein Werk über diese Neue Welt, als ob er sie gekannt hätte: „Der Amerika-Müde“ (1855 publiziert); Karl Kraus schätzte es, auch der Sprachphilosoph Wittgenstein und der Komponist und Philosoph Adorno. Kürnberger verstarb 1879, und 1894 wurde in Wien eine Gasse nach ihm benannt.

Kürnberger lässt seinen Amerikamüden sich wie einen elektrischen Aal fühlen: „Es ist etwas wider mich in der Natur, ein Feindseliges, Tragisches, das nach einem ewigen Gesetz auf mich einwirkt. Alles zeitliche Glück hilft nichts dagegen. Ich werde im Bann eines fatalistischen Elementes durch die Welt geschleift, das mich umbringt. Ich bin in einen falschen Raum gestellt, oder in ein falsches Jahrhundert — was weiß ich?“

Nietzsche, der auch nie in Amerika war, aber viel las und viel wusste, konstatierte die nervöse Unruhe, die hohe Geschwindigkeit (damals schon!), das Geschäftige, das Oberflächliche als Hauptmerkmale der amerikanischen Kultur und meinte: „Aus Mangel an Ruhe läuft unsere Civilisation in eine neue Barbarei aus.“ Das wiederum lässt an Blaise Pascal denken, den französischen Mathematiker, Philosophen und Theologen, der mutmaßte, dass alles Unglück daher rühre, dass Menschen nicht ruhig in ihrem Zimmer, ihrer Kammer verbleiben können ("Tout le malheur des hommes vient d"une seule chose, qui est de ne pas savoir demeurer en repos, dans une chambre."). Sie sind zu unruhig. Dem setzte später Adorno, der Aufklärer, der sehr wohl in den Vereinigten Staaten war, allerdings keine Symphonie darüber komponierte wie Dvořák, sondern höchst kritisch die Kehrseiten der Neuen Welt reflektierte und analysierte, etwas nach, das aber heute unmodern, unzeitgemäß ist, weil das Amerikanische, der Amerikanismus, auf allen Linien gesiegt hat und sich anschickt weiter zu siegen, nicht zuletzt durch ein Ausspäh- und Kontrollprogramm, das bis anhin unvorstellbar war, und dem die Europäer, wie paralysierte Opfer im Bannblick, nichts entgegensetzen. Außer das Vergnügen vielleicht, die Symphonie aus der Neuen Welt zu genießen, das Verdi-Requiem aus Hollywood, die Blockbuster aus der amerikanischen Filmindustrie, die nobelste und teuerste Kunst aus den erfolgreichsten Auktionshäusern…

Max Horkheimer, erst Mentor, dann Freund von Adorno, und wie dieser, obwohl bürgerlicher Herkunft, marxistisch orientiert, sah in der Außenorientierung, wie sie für Amerika und die Amerikaner typisch ist, und wie sie von dort fast überallhin exportiert wurde, eine kulturelle Gefahr, die ins Politische umschlägt: „Mit dem Schrumpfen der Innerlichkeit entschwindet auch die Freude an der eigenen Entscheidung, an Bildung und Phantasie. Andere Neigungen und Ziele kennzeichnen die Menschen dieser Zeit: technische Geschicklichkeit, Geistesgegenwart, Lust an der Herrschaft über Apparaturen, das Bedürfnis nach Eingliederung …“

Das notierte der Europäer, der in den USA war, lange vor der Herrschaft der social media, der Virtual Reality. Die Entwicklung der Realität hat seine Befunde eingeholt, ja überholt, was nicht sie entwertet, sondern unsere Realität. Unsere Experten und unsere Politiker setzen auf Technik und Software zur Lösung fast aller Probleme, auch in der Bildung, vor allem in der Wissenschaft. Aber Apparate zu beherrschen, das zeigt unsere smarte Kultur, bedeutet nicht, vertieftes Verständnis zu haben. Es bedeutet nur, schnell zu agieren, außenorientiert trotz dichter Vernetzung in einer eigentümlichen Vereinzelung sich zu gefährden, nach immer neuen Reizen Ausschau halten, wie ein Süchtiger die Reizdosis erhöhen, um immer aktiv sein zu können, permanent verbunden ein Programm erfüllen, als Erfüllungsgehilfe einer Unverbindlichkeit, die aus der wahllosen Verbundenheit resultiert, so dass der Terminus „Angestellter“ und „Angestelltenkultur“ aus der Mitte des vorigen Jahrhunderts heute eine neue Dimension zeigt, eine wortwörtliche. Die allzeit Verbundenen sind die Gebundenen, Gefesselten, die angekettet sind, an und auf der Stelle bleiben, wofür man sie anstellte, hinstellte, wegstellte. Weil sie nicht wirklich wegkommen, wollen sie wenigstens virtuell in der Welt sein, vor allem in der Neuen Welt, the brave new one.