Der Titel der Ausstellung im Kunsthaus Graz, die sich mit der Kraft der Stimme beschäftigt, ist zugleich der Titel einer frühen Arbeit von Marina Abramović: „Freeing the Voice”. Diese Performance ist prägend für die Performance- und Körperkunst, da sie Grenzen erkundet und überschreitet. Die Schau, die insgesamt 27 künstlerische Positionen umfasst, wird von der slowenischen Kuratorin und früheren Direktorin des MSU Zagreb, Zdenka Badovinac, kuratiert, die den Schwerpunkt auf Videoinstallationen setzt.
Die Ausstellung beginnt mit einer Stimme, dem Schrei von Marina Abramović – also von einem Menschen. Im Laufe der Ausstellung entwickelt sie sich zu einer Vielzahl weiterer, vorwiegend menschlicher Stimmen. Sie endet mit dem Werk von Tao G. Vrhovec Sambolec, in dem eine Mücke zu hören ist. Wir hören die Stimme der Mücke nicht mit unseren Ohren; ihre Präsenz entsteht aus unserem radikalen Zuhören. Zuhören ist nicht dasselbe wie Hören. Eine Besonderheit liegt in unserer Aufmerksamkeit und unserem Bewusstsein für uns selbst sowie für andere, menschliche und nicht menschliche Wesen und Dinge.
Warum ist eine Ausstellung über die Stimme heute so wichtig?
Die Welt, in der wir leben, ist völlig aus dem Gleichgewicht geraten. Die Vielzahl von Krisen und völkermörderischen Kriegen sowie der Verlust des gemeinsamen Raums, in dem Körper miteinander in Resonanz treten können, haben ein Gefühl der Erstickung und Panik erzeugt. Eine Kultur des Schweigens hat sich um uns herum ausgebreitet, der Raum für freie Meinungsäußerung schwindet und der Ruf nach einer „Cancel Culture” wird immer lauter. Doch dieses Schweigen, diese Zensur sind nicht die einzigen Mittel der Kontrolle. Wir sind einem Informationsrauschen ausgesetzt, das uns überwältigt. Einem Lärm, in dem der Sinn, der uns als sozialen Körper zusammenhält, zum Schweigen gebracht wird. Angesichts all dessen reicht es nicht mehr aus, lediglich festzustellen, dass wir nicht mit unserer eigenen Stimme sprechen, sondern dass immer die Stimme eines „Meisters” dahintersteht. Es ist an der Zeit zu handeln, auch wenn es zunächst nur ein unartikuliertes Schreien oder Murmeln ist.
Obwohl es so etwas wie eine authentische eigene Stimme nicht gibt, ist die Befreiung unserer individuellen und kollektiven Stimmen der gemeinsame Rahmen der gezeigten künstlerischen Arbeiten. Die Befreiung unserer Stimmen bedeutet jedoch nicht, ein Selbst zu finden, dem unsere Stimme perfekt entspricht. Was wir mit der Stimme wirklich befreien, ist unsere Beziehung zur Welt. Die Werke versuchen, die verschiedenen Stimmen bestimmter Traditionen, Nationen, Gemeinschaften, Landschaften sowie die Stimmen von Frauen, People of Colour und Menschen von den Rändern Europas zu dekolonialisieren. Die Befreiung der Stimmen bedeutet atmen, schreien, dichten, singen, sprechen und murmeln.
Die Künstler:innen machen auch auf die Krise der Moderne und ihrer rationalen Konstruktionen aufmerksam. Ihre Sprache geht über universelle Konzepte hinaus und verkörpert besondere Erfahrungen und Wissen. Eine Stimme ist immer eine spezifische Stimme. Es gibt keine Stimme, die nicht gehört werden kann – somit sind die befreiten Stimmen jene, die gehört werden. Zuhören hat die Kraft zu heilen, zu verbinden und Widerstand zu leisten.
Zu sehen sind Werke von Noor Abed, Marina Abramović, Lawrence Abu Hamdan, Babi Badalov, Selma Banich, CO2 ... , VALIE EXPORT, Farhad Farzali, Essa Grayeb, Ida Hiršenfelder, Saodat Ismailova, Anna Jermolaewa, Mikhail Karikis, Anton Kats, Belinda Kazeem-Kamiński, , Brandon LaBelle & Octavio Camargo, Katalin Ladik, Lucia Nimcová, Lala Raščić, Antoni Rayzhekov, Gerhard Rühm, Selma Selman, ŠKART & NONpractical Women, Mladen Stilinović, Irena Z. Tomažin, Nora Turato, Tao G. Vrhovec Sambolec.
Freeing the Voices
Bis zum 24. August 2025