Fly Niki

Niki de Saint Phalle, 1930 in Neuilly-sur-Seine geboren und 2002 in San Diego, Kalifornien, im Alter von 72 Jahren verstorben, gehört zweifellos zu den wichtigsten Frauenkünstlerinnen des Jahrhunderts. Mit Sophie Taeuber-Arp und Sonja Delauney, Giorgia O’Keffee und Frida Kahlo, mit Meret Oppenheim und Luise Nevelson hat sie sich als eigenständige und starke Persönlichkeit in der nach wie vor von Männern dominierten Kunstwelt durchgesetzt.

Wie kaum zuvor hat sie dem Femininen, der urwüchsigen Kraft der Weiblichkeit insbesondere mit ihren "Nanas" einen gültigen Ausdruck verliehen. Trotzdem ihr die Kunstkritik häufig Naivität, ja Kindlichkeit attestierte, hat ihr Werk, das wohl im Tarot-Garten in der Toskana kulminiert, nichts von der spezifischen Botschaft fraulicher Kreativität und eines ursprünglichen Weltbilds eingebüsst. Die Ausstellung im Kulturforum Würth Chur konzentriert sich auf einen Themenbereich, der in einer konzentrierten Form erlaubt, doch alle wesentlichen Werkphasen zu integrieren. Der Themenkomplex "Mythen – Märchen – Träume" trifft einen innersten Kern von Nikis Wesen, der von ihren frühen Ölbildern ausgehend bis zu den späten, indianischen Totems reicht.

Wichtige Jahre ihrer Kindheit verlebte sie in einem Schloss ihrer alten aristokratischen Familie. Dieses taucht oft in ihren riesenhaft grossen Ölblildern auf, die sie zwischen 1955 und 1960 malte. Unter Anleitung von Hughes Weiss in Paris und während ihrer ersten Ehe mit dem amerikanischen Schriftsteller Harry Matthews auf Mallorca, vor allem aber während Klinikaufenthalten entstanden diese Werke, welche der "art brut" zuzurechnen sind, und auf denen bereits das gesamte "Personal" ihrer Bildwelt erscheint: Fabeltiere, Paradiesgärten, Urmütter, Blumenmädchen, Traumschiffe, Geister, Drachen und Schmetterlinge, Sonnen und Monde. Eine Welt im Zustand der Schöpfung, unschuldig, naiv, vom Bösen weitgehend verschont. In einer Zeit, als sie bereits unter der Überpräsenz ihres Vaters und ihres Ehemanns litt, flüchtete sie sich in die Mythen- und Traumwelt ihrer Kindheit, die in den buntfarbigen, kindlichen Bildern ihren unmittelbaren Ausdruck fanden.

Auch in der intensiven Liebes- und Lebensbeziehung mit dem ganz anders gearteten, aus einer Schweizer Arbeiterfamilie stammenden Jean Tinguely ging dieser Urgrund ihrer Existenz und Kunst nie verloren. Wiewohl sie um 1960 im gemeinsamen Pariser Atelier und unter dem Einfluss des Programms des "Nouveau Réalisme" ebenfalls zu gefundenen Gegenständen greift und diese zu Collagen verarbeitete, blieb ihnen ein poetischer, feingesponnener, sensibler Charakter eigen. Die Horde junger Männer, neben Jean dessen Freunde Daniel Spoerri, Robert Rauschenberg oder Pontus Hultén, spielten Geburtshelfer bei ihrer eigentlichen künstlerischen und biographischen Emanzipation: den berühmten Schiessbildern. In diesen 1961/62 entstandenen Werken zielte sie als schiessende Amazone auf ihren Vater, ihre Liebhaber wie die Männerwelt und – Gesellschaft insgesamt. Diese persönliche Befreiung kreierte ihren Mythos als Galionsfigur der Frauen-Emanzipation und legte damit auch die Bildthemen der Zukunft frei.

Aber ab jetzt waren sie maternell, das Matriarchat lockte. In überschwänglichen Hochzeiten, Brautfeiern und Geburtsorgien zeugte sie jene "Nanas" als Inkarnationen der Urfrau (wie die "Venus von Wilmersdorf"), welche das Markenzeichen ihres Schaffens ausmachen. Und als sie zudem 1966 im Stockholmer Moderna Museet mit Tinguely die begehbare, riesenhafte "Hon" (= sie, die Frau) erfand, war der Mythos der beispielhaften Frauenkünstlerin, der Künstler-Frau, durch einen Welterfolg etabliert. Was damals als Schock, als Ungeheuerlichkeit das Publikum zugleich erschreckte und vergnügte, hat durch die kulturelle Revolution der Sechziger Jahre, von den Beatles bis zur Revolte der 68er, als Fanal der sexuellen Befreiung gewirkt, der Gleichberechtigung der Geschlechter und des Triumphs des Weiblichen.

In den späten Schaffungsjahren war es ihr vergönnt, in der Toskana mit dem "Tarotgarten" ihren Lebenstraum zu verwirklichen. Wie in ihrer Kindheit und ihrer frühen Malerei durchlebt sie die Welt nochmals als magischen Paradiesgarten und gestaltet mit Tinguelys Hilfe einen einmaligen, unvergesslichen Ort, der in der Ausstellung durch Peter Schamonis Film kongenial vertreten ist. Wie in ihren letzten Lebensjahren, die sie im kalifornischen San Diego verbrachte (und wo sie 2002 starb), und sie sich mit der Kultur der Indianer beschäftigte und unter anderem eine Reihe prächtiger Totems schuf, glaubte sie an die schöpferischen, positiven Kräfte in den Menschen. Die ehemalige Traumfrau, welche als Model für "Life" posierte, hatte sich zur Protagonistin eines Menschheitstraums gewandelt: einer lebensfreundlichen, friedlichen Welt.


Niki de Saint Phalle
Mythen – Märchen – Träume

27. Juni 2009 bis 17. Januar 2010