Fetisch Zukunft - Utopien der dritten Dimension

Das Zeppelin Museum stellt in einer transdisziplinären Ausstellung Visionen und Ideen der letzten 120 Jahre vor.

Technische und gesellschaftspolitische Utopien treten in den Dialog mit künstlerischen Positionen, die alternative Szenarien entwerfen und deren dystopisches Potenzial offenlegen. Können technische Innovationen die menschlichen Sehnsüchte nach Geschwindigkeit, Freiheit, Frieden, Unsterblichkeit und Nachhaltigkeit erfüllen oder wird ihr Stellenwert durch fetischisierte Heilsversprechen überhöht?

Die Ausstellung "Fetisch Zukunft. Utopien der dritten Dimension" untersucht erstmals, wie Technik- und Gesellschaftsutopien ineinandergreifen und wirft die Frage auf: Kann Technologie die Welt retten – oder ist sie nur Marketingversprechen und Machtinstrument? Dazu setzt die Ausstellung historisch bei den Luftschiffen an, geht Visionen von Lufttaxis, zivilen Hyperschallflugzeugen, fliegenden Städten und Weltraumsiedlungen nach und schaut mit Werken zeitgenössischer Künstler:innen in mögliche Zukünfte.

In fünf Themenkomplexen, Geschwindigkeit, Freiheit, Frieden, Unsterblichkeit und Nachhaltigkeit, wird eine kritische Auseinandersetzung mit vergangenen und gegenwärtigen Zukunftsvisionen einer lebenswerteren Welt vorgenommen. Mehr als 80 Exponate der Luftfahrtgeschichte werden ergänzt durch 15 künstlerische Arbeiten von der Aerocene Foundation und Tomás Saraceno, Nuotama Frances Bodomo, Andreas Feininger, Alexandra Daisy Ginsberg, Alexander Kluge, Marie Lienhard, Jacolby Satterwhite, Timur Si-Qin, Anton Vidokle und Aby Warburg.

Den Arbeiten gegenüber stehen Teile des Delphin-Luftschiffs und des Solarluftschiffs Lotte, ein Großmodell der Concorde, Modelle des Wagner Roto Cars, der Internationalen Raumstation ISS und des CargoLifter sowie zahlreiche Illustrationen zur Luftschifffahrt. Geprägt durch Technik-vertrauen, Marketing und den Wunsch nach Fortschritt wecken innovative Technologien das Versprechen einer besseren Zukunft und legen Technik- und Gesellschaftsutopien, aber auch deren Gegenbilder, die Dystopien, offen.

Geschwindigkeit

Ist schneller immer besser und führt eine höhere Geschwindigkeit zu mehr Fortschritt? Bereits im 20. Jahrhundert glorifizieren Strömungen des italienischen Futurismus und Faschismus schnelle Fortbewegungsmittel und Geschwindigkeit wurde als politische Propaganda genutzt. Die menschliche Sehnsucht, die Erde aus großer Höhe oder von weiter Entfernung sehen zu können, ist ebenfalls eng mit der Geschwindigkeit verknüpft. Die Künstlerin Marie Lienhard spielt mit dieser Dualität in einer eigens für die Ausstellung geschaffenen Arbeit: Sie lässt einen kamerabestückten Wetterballon vor dem Zeppelin Museum in die Stratosphäre steigen bis dieser platzt, rapide Richtung Erde stürzt und letztlich in den Bodensee eintaucht. Mittels Virtual Reality können Besucher:innen die Kamerafahrt nacherleben.

Freiheit

Die Idee der absoluten Freiheit ist seit Jahrhunderten untrennbar mit dem Fliegen verbunden. Was bedeutet Freiheit in der dritten Dimension, wer hat Zugang zu dieser Möglichkeit und wer ist davon ausgeschlossen? Künstler:innen wie Nuotama Frances Bodomo lenken den Blick auf vergessene Aspekte der Raumfahrtgeschichte und reflektieren afrofuturistische Visionen. In spekulativen Zukunftsentwürfen wird eine Welt ohne Rassismus und Diskriminierung, mit individueller Freiheit, Selbstverwirklichung und Emanzipation ins Zentrum gerückt. Demgegenüber zeigen selbstgebaute Flugapparate, Drohnentaxis, das Rüb-Schaufelradflugzeug oder der Wagner-Helikopter Rotocar die Grenzen der individuellen Mobilität in der dritten Dimension auf.

Frieden

Stiftet die bessere Verständigung zwischen Menschen durch die Luft- und Raumfahrt ein friedvolleres Leben auf dem Planeten? Eine positive Umdeutung der Luftfahrt zum Verkehrsmittel und intensive Marketingstrategien nach den Erfahrungen des Ersten Weltkriegs sorgten dafür, dass insbesondere Riesenluftschiffe bis heute die Idee von einer friedlichen Zukunft der Luftfahrt symbolisieren. So galt die ISS – ein Modell der Raumstation schwebt im Raum dieser Themenwelt – bis zu den jüngsten Ereignissen des Ukraine-Kriegs als postkolonialer, transnationaler Ort der Völkerverständigung. Zahlreiche Luftschiffmodelle veranschaulichen die historischen Bezüge von Technik- und Gesellschaftsutopien.

In einer Virtual-Reality-Arbeit von Timur Si-Qin können die Besucher:innen außerkörperliche Erfahrungen sammeln und über digital generierten Landschaften schweben, was Si-Qin als New Peace im Sinne einer neuen Spiritualität versteht.

Unsterblichkeit

Wollen wir wirklich unsterblich sein und was wären die Folgen für unsere Gesellschaft? Mit dem Kampf der Menschheit gegen die Beschränkungen des irdischen Lebens nähert sich Anton Vidokle dem Thema und greift damit Ideen des russischen Kosmismus auf. In seiner Arbeit werden Museen zu Speichern menschlicher Mumien, die darauf warten, wieder zum Leben erweckt zu werden. Für die menschliche Sehnsucht nach Unsterblichkeit durch die Eroberung des Weltraums wird ein Mars-Diorama in der Ausstellung zu sehen sein. Alexandra Daisy Ginsberg räumt bei der Besiedlung des Mars Pflanzen das Vorrecht ein und rückt damit eine neue ökologische Gerechtigkeit in den Vordergrund. In einer umfangreichen Rauminstallation lässt sie diese spekulative Utopie für die Besucher:innen Wirklichkeit werden.

Nachhaltigkeit

Als zentrales Thema der Zukunft bildet die Nachhaltigkeit die letzte Station der Reise durch die Utopien der dritten Dimension. Eine höhere Geschwindigkeit geht immer mit einem stärkeren Ressourcenverbrauch einher. "Saubere Technik" und marketinggetriebenes Greenwashing vermitteln der Öffentlichkeit die Fortführung des uneingeschränkten Konsums und Mobilität. Werden wir uns wirklich eines Tages ohne CO2-Ausstoß durch die Luft bewegen und sogar in den Weltraum fliegen können? Mit dem Bild des Earthrise wird der Blick ins All auf uns zurück- und gleichzeitig die Frage aufgeworfen: Sollten wir nicht zunächst unseren einzigartigen Planeten schützen, bevor wir die Besiedlung des Weltalls anstreben? Die internationale Aerocene Community und ihr Gründungsmitglied Tomás Saraceno werden einen ganz praktischen Blick darauf werfen, wie ein nachhaltiges Leben in der dritten Dimension aussehen könnte: Im Rahmen eines Workshops können Besucher:innen den Aerocene Backpack, eine aerosolare Skulptur, ausschließlich mit Solarenergie, ohne fossile Brennstoffe, Lithiumbatterien, Helium oder Kohlenstoffemissionen, nachhaltig aufsteigen lassen.

Fetisch Zukunft.
Utopien der dritten Dimension
Bis 16. April 2023