Feigheit

Für Hitler, der dem Islam als männertugendhafte Religion mehr abgewann als dem verweichlichten Christentum, war es nicht nur kein Problem, den Genozid an den Armeniern als solchen zu bezeichnen und zu verstehen, sondern eine willkommene Belehrung, wie ein Staat, ein Regime, wenn es nur entschlossen genug handelt, mit dem inneren Feind aufräumen kann. Nicht, dass ohne den ersten geplanten, systematischen Völkermord im 20. Jahrhundert, dem Vernichtungsfeldzug der Ottomanen gegen die Armenier bzw. Christen, also allem Nichttürkischen im Land, Hitler nicht seinen Genozid an den Juden durchgeführt hätte. Aber in vielen Sätzen und Textstellen lässt sich das Lob an der türkischen Vernichtungspolitik lesen, drückt sich Anerkennung und Lob an Atatürks Erfolg aus, als Verlierer unterm Diktat der Versailler Verträge dennoch eine türkische Eigenständigkeit unter Beweis zu stellen, der die Siegermächte nichts entgegensetzten. Das war inspirierend.

Bis heute spricht der Nachfolgestaat des osmanischen Reiches, die Türkei, von kriegsbedingten Kämpfen und Massakern, klittert in ihren Historiografien die Geschichte, verfolgt jene, die vom Genozid sprechen, soweit dies in ihrem Machtbereich erfolgt, und legt es sich auch mit der EU und anderen an, weil sie unbedingte und totale Deutungshoheit über Vergangenheit und Gegenwart beansprucht. Ein islamofaschistisches Regime wird dabei von vielen Staaten unterstützt. Dass ausgerechnet Deutschland nicht klar Position bezieht und Völkermord als das nennt, was er ist und war, zeigt, wie leer und unverbindlich einerseits die Werte geworden sind, die in vielen Ritualen bemüht werden, wie stark das realpolitische Vorteilsagieren das Denken schwächt und auf den Kopf stellt.

Diese Feigheit ist nicht nur auf den US-Vasallen Deutschland beschränkt. Würden z. B. die Europäische Menschenrechtskonvention bzw. völkerrechtliche Verträge ernst genommen, könnte Großbritannien nicht in der EU verbleiben, da es erwiesenermaßen gegen wichtige Artikel vieler Verträge verstößt, in dem es einen cyberwar gegen viele EU-Mitgliedsländer führt. Großbritannien ist mit dem Master, den USA, der Leit- und Führungsmacht der NATO, im Krieg. Späht aus, verletzt Bürgerrechte, kriminalisiert, verfolgt, bereitet Kriege vor. Doch Denken und Sprache werden gebeugt, um keine Krise, die die Union vielleicht sprengen würde, heraufzubeschwören, als ob das niederträchtige Vorgehen der Briten kein Problem darstellte.

Die Abhängigkeitsverhältnisse vieler EU-Staaten von der Leitmacht USA sind unterschiedlich, aber in allen Fällen dergestalt, dass von Souveränität nicht mehr gesprochen werden dürfte. Aber man lenkt ab, so wie der deutsche Außenminister sich gerade dafür durchzuringen vermochte, den ottomanischen Völkermord bloß als „Massaker“ zu bezeichnen. Dass der Papst, Oberhaupt einer überaus konservativen Kirche, von Genozid sprach, was wütende Proteste der offiziellen Türkei provozierte, stellt eine bedeutsame Gewichtsverlagerung dar.

Die Feigheit ist zur europäischen Qualität geworden. Menschenrechtsverletzungen werden höchst unterschiedlich verstanden und eingefordert; bei China belässt man es bei Verbalnoten, die vorher mit dem Regime abgesprochen wurden, um die Geschäftsverbindungen nicht zu gefährden. Es wird in einer Newspeak, der Eurospeak, gesprochen, die sich hervorragend für die Relativierung und Unverbindlichkeit eignet. So werden Israels Verfolgungen der Palästinenser, faschistoide, rassistische Maßnahmen einfach umgetauft, um das Bild nicht zu stören, um den Mythos des heldenhaften David aufrecht zu erhalten. So wird von den USA von einer Demokratie geredet, obwohl sie keine ist, von Freundschaft, obwohl eine offene Feindschaft nicht nur angemessen, sondern weniger unheilvoll wäre, weil man sich dann nichts vormachte. Europa hat sich in seiner Feigheit verheddert und säumt den Abwärtsweg mit Floskeln aus Eurospeak. Feig eben.

(Stellvertretend für viele Arbeiten zum türkischen Völkermord an den Armenieren sei auf nur einen Artikel verwiesen: Rolf Hosfeld: „Eine ‚Ära der Säuberungen‘: Der Völkermord an den Armenieren“, in: BLÄTTER FÜR DEUTSCHE UND INTERNATIONALE POLITIK, 4/2015, S. 95-108)