Figuren aus Fäden entspannen sich zwischen acht Fingern und zwei Daumen, manchmal auch zwischen Zehen und Zähnen.
Fadenspiele können vieles: Sie erzählen Geschichten, sie sind Zeitvertreib, sie machen Unsagbares sichtbar, sie verbinden Menschen. Das Museum Tinguely präsentiert in einer explorativen Ausstellung eine der ältesten Kulturtechniken der Menschheit. Von Andy Warhol über Donna Haraway bis hin zu den heutigen TikTok-Perfomer:innen geht die Ausstellung dem weltweit verbreiteten Phänomen nach.
Als ästhetische Praxis, als museales Sammlungsgut und als nicht-westliche Denkfigur haben Fadenspiele Wissenschaft und Kunst immer wieder beschäftigt. Gezeigt werden zeitgenössische und historische Werke aus Kunst und Ethnologie, die das Fadenspiel zu ihrem zentralen Thema machen, darunter Harry Smiths Fadenfiguren, Maya Derens Film Witch’s Cradle, Radierungen von Mulkun Wirrpanda, Nasser Muftis Multispecies Cat’s Cradle und eine Fadenspiele verarbeitende KI. Die Ausstellung bringt Menschen und Positionen aus verschiedenen Regionen der Welt zusammen, erforscht Möglichkeiten des Re:connectings und zelebriert lokale, indigene und dekoloniale Ästhetiken.
So filmte die Experimentalfilmpionierin Maya Deren den in die USA emigrierten Marcel Duchamp beim Fadenspiel, kurz nachdem dieser kilometerlange Fäden in seinem surrealistischen Ausstellungsdesign verbraucht hatte. Maureen Lander wiederum dekolonisierte Duchamps Boite-en-valise, indem sie sein berühmtes kleines Koffermuseum mit Fotografien von Mäori-Fadenspielen neu füllte. Andy Warhol filmte in einem seiner Screen Tests Harry Smith, einen Grenzgänger zwischen Folklore und Kunst, beim Fadenspiel. Und der Ingenieur David Ket’acik Nicolai aus Alaska führt heute als Yu'pik Dave auf TiKTok die Figuren auf, die er von seiner Großmutter gelernt hat.
In der Ethnologie galten die Fadenfiguren lange Zeit als universelles Spiel. Als eine an vielen Orten der Welt anzutreffende Körperpraxis nährte es die epistemologischen Phantasien eines Kulturvergleichs, der Rückschlüsse auf Migrationsrouten oder das universell Menschliche ermöglichen sollte. Bereits 1888 beschrieb Franz Boas die Fadenfiguren der Kwakiutl. In der Folgezeit ‘sammelten’ europäisch-amerikanische Ethnologen und Ethnologinnen Fadenfiguren, montierten sie auf Pappe oder fertigten Zeichnungen und Fotografien an. Diese Medien lassen jedoch keine Rückschlüsse auf die Herstellung der Figuren zu, weshalb komplexe Notationssysteme entwickelt wurden. Um wiederum der Prozessualität, Performativität und Körperlichkeit des Fadenspiels gerecht zu werden, haben Ethnologinnen und Ethnologen auch Filme von Fadenspieler:innen gemacht. Einige dieser Filme finden sich in der Encyclopaedia Cinematographica, deren Ziel es war, die Welt auf Zelluloid zu bannen und im Sinne einer Rettungsethnologie für die Nachwelt zu erhalten.
In den letzten Jahren hat das Fadenspiel in der Kulturtheorie an Popularität gewonnen. Donna Haraway propagiert Fadenfiguren als Methode für interdisziplinäres und speziesübergreifendes Denken und Zusammenarbeiten. Im Gegensatz zur Netzwerkmetapher bieten Haraways string figures eine spielerische, prozessorientierte und verkörperte Denkfigur, in der die Verantwortung füreinander im Mittelpunkt steht.
Fadenspiele / String Figures
Eine forschende Ausstellung
bis 9. März 2025