In den 1960er Jahre entwickelte sich in der Tschechoslowakei mit der Liberalisierung des sozialistischen Regimes eine filmische Welle, in der bissig und formal experimentierfreudig Gesellschaftskritik geübt wurde. Das Filmpodium Zürich erinnert mit einer Filmreihe an diese Aufbruchsbewegung.
Die 1960er Jahre waren weltweit nicht nur gesellschaftlich, sondern – untrennbar sind diese Bereiche immer verbunden - auch im Kino eine Zeit des Aufbruchs. Parallel zur französischen "Nouvelle Vague" blühte in Großbritannien zu Beginn des Jahrzehnts kurz das "Free Cinema", in Deutschland löste man sich mit dem Oberhausener Manifest 1962 von "Papas Kino", in Japan leiteten Regisseure wie Nagisa Oshima, Susumu Hani und Shohei Imamura eine Ablöse der Altmeister ein.
In Lateinamerika äußerte sich der politische Aufbruch filmisch unter anderem im brasilianischen "Cinema nôvo" und in den USA öffnete das "Direct Cinema" dem Dokumentarfilm neue Möglichkeiten, ehe Ende der 1960er Jahre das "New Hollywood" zumindest vorübergehend das Ende des alten Studiosystems brachte.
Einen Aufbruch gab es aber auch im poststalinistischen Osteuropa. Herausragende Regisseure wie Andrej Tarkowskij und Sergej Paradshanow drehten in der Sowjetunion ihre ersten Filme und in Polen meldete sich unter anderem mit Roman Polanski und Jerzy Skolimowski ebenso eine neue Generation zu Wort wie in Ungarn mit István Szabó und Miklós Jancsó.
Auch in der Tschechoslowakei begünstigte eine zunehmende Liberalisierung die Arbeit junger Filmemacher. Als erster Film der Neuen Welle gilt "Die Sonne im Netz" (1962), in dem Stefan Uher im Stil der "Nouvelle Vague" das Lebensgefühl der tschechoslowakischen Jugend erkundete. Durch ähnliche Frische und genauen Blick auf den Alltag überzeugt auch "Der erste Schrei" (1963), in dem Jaromil Jires sich auf einen Tag des Jahres 1963 beschränkt und die Geschichte einer Frau, die vor der Geburt ihres erstes Kindes steht und ihres Mannes, der als Fernsehmechaniker arbeitet, mit Wochenschauaufnahmen, die die Handlung in den zeitgeschichtlichen Hintergrund einbetten, verknüpft.
Wie Uher und Jires revolutionierten zwischen 1962 und 1965 mehrere junge Absolventen der Prager Filmschule FAMU wie Miloš Forman, Věra Chytilová, Ivan Passer und Jiří Menzel den tschechoslowakischen Film.
Gemeinsam war diesen Regisseuren die Lust am Experiment und die Kritik an gesellschaftlichen Missständen. Sie traten aber nicht als Gruppe auf, sondern gingen ganz unterschiedliche Wege. Vom französischen "Cinéma vérité" sind vor allem Véra Chytilová und Miloš Forman beeinflusst, die in ihren frühen Filmen versuchten möglichst genau die Wirklichkeit zu treffen, bekannten sich aber gleichzeitig auch zu ihrem subjektiven Blick.
So erteilte Chytilova in "Ein Sack Flöhe" (1962) jungen Textilarbeiterinnen das Wort und kombinierte im folgenden "Von etwas anderem" (1963), in dem sie den Alltag einer Sportlerin und einer Hausfrau gegenüberstellte, dokumentarische mit inszenierten Szenen. Ihren eigenwilligsten Film drehte Chytilova dann 1967 mit "Tausendschönchen". Im Mittelpunkt dieses nach Aussage der Regisseurin "burlesken philosophischen Dokuments" stehen zwei Mädchen, die mit anarchischen Aktionen die bürgerliche Welt ins Chaos stürzen.
Miloš Forman gelang mit seinem Langfilmdebüt "Der schwarze Peter" 1964 auf Anhieb der internationale Durchbruch. Mit großer Detailgenauigkeit fokussiert Forman darin auf dem Alltag eines 16jährigen Lehrlings. In der quasidokumentarischen Schilderung entwickelt sich der Film dabei zu einer exemplarischen Studie, in der aber auch versteckter Humor nicht zu kurz kommt. Vom Blick aufs Alltägliche leben auch Formans folgende Filme "Die Liebe einer Blondine" (1965) und "Feuerwehrball" (1968). Keinen weiteren Film drehte er in seiner Heimat. Zur Zeit der Niederschlagung des Prager Frühlings hielt er sich in Paris auf, von wo er in die USA emigrierte. Dort feierte er auch mit "One Flew Over the Cuckoo´s Nest" (1976) und "Amadeus" (1982) seine größten Erfolge.
Wie Forman verließ auch sein Drehbuchautor Ivan Passer 1969 die CSSR, nachdem er in seiner Heimat nur einen eigenen Spielfilm gedreht hatte. Genau blickt Passer in "Intime Beleuchtung" (1966), in dem er von einem Musikschuldirektor erzählt, der in seiner Kleinstadt Besuch von einem alten Schulfreund und seiner Geliebten besucht wird, auf den Alltag und macht hinter der Oberfläche Leere und Abstumpfung sichtbar
Scharfe Beobachtung der Wirklichkeit zeichnen auch die Filme von Jiří Menzel aus. Für "Liebe nach Fahrplan" (alternativer Titel: "Scharf beobachtete Züge"), in dessen Mittelpunkt ein Bahnamtsanwärter steht, der auf einem tschechischen Provinzbahnhof am Ende des Zweiten Weltkriegs seinen Dienst verrichtet, erhielt Menzel ebenso wie zwei Jahre zuvor Jan Kádár und Elmar Klos für "Das Geschäft in der Hauptstraße" (1965) den Oscar für den besten nicht englischsprachigen Film. Mit "Launischer Sommer" (1968) folgte ein Film über die komischen Abenteuer dreier alternder Freunde zur Zeit der Jahrhundertwende, ehe Menzel 1969 in "Lerchen auf Fäden" eine Liebesgeschichte unter politischen Gefangenen und Romas in den 1950er Jahren erzählte.
Wie Chytilovás spätere Filme tendieren auch die Werke von Jan Němec und Juraj Jakubisko zum Phantastischen und Symbolischen. Während die Filme von Němec wie "Diamanten der Nacht" (1964) und "Das Fest und die Gäste" (1966) dabei immer wieder um Flucht und Verfolgung, Herrschaft und Unterdrückung kreisen und im Verschwimmen von Wirklichkeit und Halluzination auch an Alain Resnais "L´année dernière a Marienbad" erinnern, erzählt der Slowake Jakubisko in "Christusjahre" (1967) teileweise autobiographisch mit großem Aufwand an Stilmitteln die tragikomische Geschichte zweier rund 30-jähriger Brüder.
Zu den großen Talenten des tschechoslowakischen Films zählte auch Evald Schorm, der in seinen Filmen ein düsteres Bild der Welt zeichnet, dem Zuschauer keine Hoffnungen gibt, aber ihn zum Nachdenken auffordert. Sowohl in "Mut für den Alltag" (1965) als auch in "Die Rückkehr des verlorenen Sohns" (1966) prangert Schorm am Beispiel von Menschen, die aus der Gesellschaft ausbrechen, scharf alles Lügenhafte und Heuchlerische im Alltag der sozialistischen Gesellschaft an.
Direkt nach seiner Premiere 1969 verboten und erst 1990 wieder gezeigt wurde "Der Leichenverbrenner" von Juraj Herz. In einem Mix aus Horror, Satire und Drama erzählt Herz darin von einem Krematoriumsbetreiber, der zum Mörder wird, um gesellschaftlich aufzusteigen.
Abrupt und brutal wurden im August 1968 mit dem Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes der Prager Frühling und damit der liberale Kurs von Alexander Dubček und auch die kurze Blüte des tschechoslowakischen Kinos abgewürgt. Ein Wunder ist es geradezu, dass 1970 trotzdem noch so ein surrealistischer Film wie Jaromil Jireš´ "Valerie – Eine Woche voller Wunder" entstehen konnte.
Trailer von "Die Sonne im Netz"